Über die Folgen der Attentate vom 11.September
Die Neigung der deutschen Linken, angesichts dramatischer Ereignisse in Bekenntniszwang und Erklärungskonkurrenz zu verfallen, wird durch den 11.September und seine Folgen gnadenlos gefüttert. Ich hoffe, dieser Falle einigermaßen entgehen zu können, und beziehe mich deswegen auch nicht auf die Texte anderer, von denen ich selbstverständlich zahlreiche gelesen habe.
Erwärmung
Es liegt in der Logik der Situation, daß nicht einfach frei von der Leber weg diskutiert wird, sondern der Versuch einer Verständigung über die Basis der Diskussion und der Diskutierenden am Anfang steht. Denn nicht nur das Ereignis selbst, auch seine möglichen Folgen haben sowohl emotional als auch praktisch eine gewaltige Dimension. Insofern kann ich verstehen, daß viele – auch Linke – das Bedürfnis haben, an erster Stelle ihre Gefühle auszudrücken (in den meisten Fällen: Schock und Entsetzen) und gleich danach von anderen einfordern, dasselbe Bekenntnis abzulegen. Allerdings ist dieses Bekenntnis an sich billig zu haben, und Gegenbeispiele innerhalb der deutschen Linken belegen vor allem den Trotz gegen diese Billigkeit, denn wer wäre nicht entsetzt über den organisierten Mord an 6000 Menschen? Die Verlängerung dieses Bekenntnisses in den Tabu-Bereich, indem das Entsetzen an sich zum rationalen Argument erklärt und damit jede weitere Diskussion und Analyse unmöglich gemacht wird, ist allerdings abwegig.
Ebenso abwegig ist das blinde Zusammenrühren der Begrifflichkeiten im emotionalen Schreckensbrei. Plötzlich gibt es für einige keinen Unterschied mehr zwischen Analysieren, Erklären, Begreifen, Verstehen, Rechtfertigen, Propagieren. Sie haben Aufklärung und Kritik an der Garderobe der Gefühle abgegeben. Wer meint, die Analyse habe angesichts der Monströsität des Ereignisses zu verstummen, und zwar nicht nur kurzfristig-subjektiv aus Betroffenheit, sondern überhaupt, verabschiedet sich damit aus der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und überläßt sie denjenigen, denen er oder sie eben noch gegenüberstand. Andere haben bereits darauf hingewiesen, daß selbst die bisher vergleichslose Monströsität des Holocaust nicht der Analyse an sich verschlossen bleiben darf. Wer sich nicht bemüht, etwas zu begreifen, ist ihm letztlich hilflos ausgeliefert, ein Kaninchen vor der Schlange.
Es geht dabei nicht um gängige Relativierungen, wie sie gerade in Mode sind: 500.000 Ermordete in Ruanda vs. 6000 in New York vs. 300 in Palästina vs. 100 in Israel vs. 1 in Genua… was soll der Quatsch? Es ist offensichtlich, daß die Attentate vom 11.September auch innerhalb der deutschen Linken ganz anders wirken als andere Schreckensmeldungen.
Allein diese Tatsache zu analysieren, geht manchen schon zu weit, wird von ihrem Entsetzen erstickt. Vielleicht brauchen manche auch einfach noch etwas Zeit, bis sie den Schock überwunden haben. Die Medien haben in den Tagen nach dem 11.9. sehr effektive Trauma-Erzeugungs-Arbeit geleistet. Sie haben archaische Horden-Reflexe mobilisiert bei den Angehörigen des westlich-christlichen Kulturkreises: Feuer, Qualm und Steinschlag vom Himmel, Zorn der Götter, erschüttern unser Revier. Wir ziehen den Kopf ein, draußen heulen die Wölfe, wir scharen uns ums Lagerfeuer. Der Stamm ist stark, aber die Einzelnen schwach. Turbane und Schleier werden latent unheimlich (sind es Schläfer? – die Verlegung des Feindes ins Innere der Höhle). Solche Effekte des Zusammenrückens werden von den bürgerlichen Medien durchaus bewußt angestrebt und erfreut kommentiert. Sie sind auch nicht gerade neu als politischer Mechanismus. Wo Identitäten geschweißt werden sollen (nationale, religiöse, ethnische, ideologische…), hilft stets die Ausschaltung des Rationalen, eine banale Erkenntnis. Wenn eine solche Offensive mit großer Macht hereinbricht, werden auch Linke schwach, sei es bei Ausbruch des 1.Weltkrieges 1914 oder im deutschen Herbst 1977. Ich will damit ausdrücklich an dieser Stelle nicht denunzieren, nicht Verräter, Feiglinge etc. ausmachen, sondern einen objektiven Prozeß beschreiben, dem sich zu entziehen nicht einfach ist.
Die bisherigen Reaktionen jenseits der gesellschaftlichen Gleichschaltung haben überwiegend einen kaum weniger reflexhaften Charakter als eben diese selbst. Sie reichen vom „Bitte-kein-Krieg“ der SchülerInnen über ein „Selbst-schuld“ oder die erwähnten Relativierungen der aufgewühlten Nachdenklichen bis hin zu trotzigem Jubel und Schadenfreude auch bei Linken („endlich hat es auch mal die USA erwischt“). Auf solchen Reflexen wuchern seit jeher auch Anti-Amerikanismus und Antisemitismus. Ich will hier keineswegs das Lied der Anti-Nationalen singen, die sich mit ihrem querulantischen Sektierertum längst aus der ernsthaften Debatte verabschiedet haben (was sie aber u.a. aufgrund ihrer überproportionalen Präsenz in linken Medien bisher selbst nicht bemerkt haben). Es ist jedoch unbestreitbar, daß gegen US-amerikanischen Militarismus spontan zehnmal mehr Deutsche auf die Straße laufen als gegen deutschen Militarismus, daß die (historisch eher junge als alte) wechselweise Bewunderung und Angst vor der Omnipotenz der Großmacht USA und ihrer B52-Bomber stark mobilisiert.
Das Ressentiment gegen andere ist eben schnell geweckt. Bombenteppich-Händler ziehen los gegen Kamel-Teppichhändler… Heiliger St.Florian, verschon mein Haus, zünd‘ andre an – radikale Linke haben bereits in den 80er Jahren hinter der Massenmobilisierung der Friedensbewegung solche Gefühle vermutet. Antisemitismus spielt, meine ich, bisher noch keine Rolle dabei, aber das wird sich noch ändern. Dazu später mehr. Hier geht es darum, festzuhalten, daß die bisherigen Reaktionen, öffentlich wie privat, zu einem erheblichen Teil gespeist wurden aus der emotionalen Erschütterung und dem daraus resultierenden Handlungs- und Mitteilungsbedürfnis, nicht zuletzt kräftig geschürt durch die Medien.
Ground Zero
Ich möchte nur kurz auf die Attentate selbst eingehen, denn dazu ist schon viel gesagt und geschrieben worden. Ich betrachte einen Anschlag, der erkennbar darauf zielt, allgemein Angst und Schrecken zu verbreiten und Vernichtungsfantasien zu mobilisieren, als im Kern faschistisch. Die „Strategie der Spannung“ faschistischer Bombenanschläge im Italien der 70er Jahre wie die Anschläge islamistischer Gruppen, die im Laufe der 90er Jahre eskaliert sind, verfolgen das Ziel einer aggressiven Zurichtung der Gesellschaft auf kriegerische und repressive „Lösungen“.
Das heißt aber auch, sie verfolgen wirklich ein Ziel, sind nicht irrational. Die Definition der Irrationalität ist so oder so problematisch, da sie immer auch von der Definitionsmacht derer abhängt, die darüber diskutieren. Im Wertesystem einiger islamistischer Organisationen ist es keineswegs irrational, sich mit einer Bombe um den Bauch selbst zu sprengen. Noch in den 80er Jahren gab es kritische Stimmen aus dem arabischen Raum, die die Vorstellung vom Selbstmordattentäter (dem das Paradies versprochen wird) als westliche Projektionen, als rassistischen Mythos vom „irrationalen Araber“ kritisierten und feststellten, die ersten Selbstmordattentäter seien in Wirklichkeit getäuscht worden von ihrer Organisation, ihnen sei ein lebendiges Entkommen vorgegaukelt worden. Das hat sich offensichtlich geändert. Es hat sich ein in sich logisches System herausgebildet, das Männer offenen Auges in den Tod gehen läßt. Dieses System setzt sich vermutlich aus religiöser Ideologie ebenso zusammen wie aus der verrohenden Erfahrung einer brutalisierten bzw. gar von Krieg bestimmten Umwelt und auch aus dem typischen Interesse eines Apparates (hier des islamistischen), weiterzuexistieren und sich seine Legitimation nach Bedarf zu schaffen. (Soweit ich weiß, ist die linke Ideologie die einzige, die die bewußte Aufgabe des Kampfes kennt – sowohl Radikale wie die RAF als auch der komplette Herrschaftsapparat der DDR haben sich seinerzeit faktisch kampflos aufgelöst, was kein bürgerlicher, rechter, religiöser Apparat je tun würde – provokative These?). So gesehen, ist es für Linke naheliegend und klar, ihr ehrliches Entsetzen über die Attentate auszudrücken.
Es gibt eine zweite Seite, die nicht allein von der Relativierung, der Herstellung von historischen und anderen Zusammenhängen lebt. Es gab die „klammheimliche Freude“ über die Erschießung von Generalbundesanwalt Buback 1977 selbst bei entschiedenen Gegnern der RAF, die offene Freude radikaler Linker über andere Attentate, sei es die Sprengung Carrero Blancos durch die ETA in den 70ern in Spanien, sei es die von Bankchef Alfred Herrhausen 1989 durch die RAF oder die Autobombe der IRA im Londoner Bankenviertel vor einigen Jahren. Nicht wenige radikale Linke sind in Berlin schon am Potsdamer Platz vorbeigefahren, oder am Kanzleramt, und haben gedacht: da müßte mal ’ne Bombe… Das hat nichts zu tun mit Menschenverachtung und Zynismus, wie selbsternannte Moral- und Sittenwächter von „Spiegel“ bis „taz“ gerne fantasieren, sondern ist die Gefühlslage der faktisch Ohnmächtigen im Angesicht der Macht. Die Zerstörung von Symbolen der Macht erweckt ein spontanes Gefühl der Erleichterung bei vielen. Und es ist nun einmal so, daß unser Denken auch Menschen in ihrer symbolischen Rolle wahrnehmen kann und von ihrer konkreten Persönlichkeit abstrahiert. Je nach eigener moralischer und humanistischer Befindlichkeit wird sich das verschieden äußern, und manches Mal wird ein solches Gefühl, selbst empfunden, voll Beschämung unterdrückt werden, weil es den selbstgesteckten Maßstäben widerspricht.
Leider sind derartige Gefühle weder durch Tabuisierung noch durch wortreiche Geißelung abzuschaffen, sondern letztlich nur durch eine Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen, in denen wir existieren. Und die Verweigerung der Kommunikation darüber von Seiten der vermeintlich moralisch Sicheren unter Berufung auf vorher abzulegende Bekenntnisse verweist auf deren eigentliche Unsicherheit, auf den Tunnelblick, den der durch die äußeren Verhältnisse (mediales Trommelfeuer) wie durch eigene Betroffenheit bedingte Streß erzeugt. Ich will, wiederum, weder diese Position denunzieren noch die derjenigen Linken, die mit Schadenfreude reagieren. Beide emotionalen Reaktionen kann ich verstehen, und beide sind weit entfernt von einer analytischen Sichtweise.
Die Einordnung der Attentate vom 11.September in einen politischen und historischen Kontext ist möglich und nötig. Natürlich repräsentieren sie nicht den heroischen Kampf unserer Brüder und Schwestern in der „3.Welt“ gegen die imperialistische Metropole. Sie, also die Täter, legen keinen Wert auf die linke Analyse des Geschehens. Sie sehen uns nicht als Brüder und Schwestern, zum Glück, sondern als metropolitane Masse im Bündnis mit den Mächten des Bösen, die den Westen beherrschen. Insofern gibt es für uns keinerlei Veranlassung, Gemeinsamkeiten zu suchen.
Auch die Sorge, linke Indifferenz gegenüber politischer Gewalt habe solche barbarischen Angriffe befördert, zeugt mehr von egozentrischer Spiegelung eigener Befindlichkeit als von realer Einschätzung der Kräfteverhältnisse. So richtig es ist, darüber zu diskutieren, inwieweit es in Deutschland Zusammenhänge zwischen der Etablierung militanter Straßenaktionen durch die Linke einerseits und deren Aufgreifen durch rassistischen Mob 1991/92 andererseits geben könnte, so absurd ist es, auch nur ETA-Aktionen, geschweige denn islamistische, in irgendeinen Zusammenhang mit Zuspruch aus der deutschen Linken zu bringen. Diese Frage muß andersherum gestellt werden: Sei es die Verstrickung deutscher bewaffneter Gruppen in den 70er Jahren in den Palästina-Konflikt, sei es die Farce der „Anti-Imperialistischen Zelle“ AIZ Mitte der 90er Jahre – es gibt offensichtlich in der deutschen radikalen Linken seit jeher ein kleines Spektrum, das sich zu leicht blenden läßt von Solidarität und dem vermeintlichen Auffinden „wahrer“ revolutionärer Subjkete und darüber andere Maßstäbe revolutionärer Politik über Bord wirft. Sprich: der Schwanz wedelt nicht mit dem Hund, sondern andersherum.
Andererseits gibt es objektive tatsächliche Konflikt- und Herrschaftsverhältnisse, und so betrachtet sind die Attentate sehr wohl langfristiger Ausdruck einer Auseinandersetzung, die sich bis in die Zeit der römischen Eroberungen auf dem asiatischen Kontinent zurückverfolgen läßt. Der Islamismus wäre vermutlich nicht in der Form entstanden, die er heute hat, wenn die kolonialen und postkolonialen Interessen und Kämpfe der westlichen Staaten (bzw. Ökonomien) im arabischen Raum nicht stattgefunden hätten. Und wäre er dennoch entstanden, hätte er sich anders geäußert.
Noch allgemeiner gesprochen, produziert ein System der auf allen gesellschaftlichen Ebenen aggressiven, expansiven Produktion auch die entsprechenden Menschentypen. Die Waffen, die gebaut werden, um die Konflikte innerhalb dieses Systems auszutragen, können in jede Richtung feuern, und das tun sie auch früher oder später. Das Patriarchat gebiert Krieger, die sich ihre Kriege eifrig suchen. Nicht zuletzt dieses Erkenntnis läßt uns doch für eine Welt kämpfen, die frei von diesen Herrschaftsformen ist. Darauf hinzuweisen ist umso nötiger, als von den Herrschenden und von den Medien gerade jetzt ein ahistorisches Weltbild entworfen wird, um uns für ihre Indoktrination zu öffnen: Ground Zero, das heißt: vor dem Attentat gab es nichts. Dagegen müssen wir uns wenden.
Big politics
Die Medien spielen ihre Rolle bisher reibungslos. Oder, um genauer zu sein: sie produzieren die Reibungen, die den gesamten Prozeß befördern. Wie erwähnt, haben sie in einer ersten Phase durch die dauernde Reproduktion der Eindrücke eine – unwissenschaftlich gesprochen – kollektive Traumatisierung in den Staaten der „westlichen Allianz“ herbeigeführt. Alle Gefühle und Gedanken hatten sich dem Schrecken unterzuordnen, waren an ihm zu messen. Kaum jemand wird sich dem Gefühl von „nichts wird mehr so sein wie vorher“ entzogen haben können. Dabei gilt das so in der Realität mit Sicherheit nur für eine sehr kleine Minderheit.
Indem sofort der Krieg ausgerufen wurde, begann (zeitlich teils parallel) die zweite Phase. Die ständige Thematisierung des Krieges macht die Gesellschaft mental reif dafür. Dazu gehören ebenso die kritischen Stimmen. Ob dafür oder dagegen, niemand zweifelt am Ausbruch des Krieges an sich. Es ist allen freigestellt, sich Vorräte anzulegen oder sicherheitshalber Gasmasken zu kaufen, oder auch nicht. Dieses Sturmreif-schießen der gesellschaftlichen Diskurse bereitet den Boden für zwei Konsequenzen: die innere Aufrüstung und Militarisierung der westlichen Staaten einerseits und die Ausschaltung der radikalen Opposition andererseits – ganz unabhängig davon, ob der Krieg nun kommt oder nicht. Wer glaubt, nun würden Bush oder Schröder als nächstes folgerichtig zu Militärdiktatoren mutieren, liegt ganz falsch und unterschätzt die Komplexität und Krisenanfälligkeit der „westlichen Wertegemeinschaft“. Vielmehr sind die Medien und ihre Zulieferer in eine dritte Phase eingetreten, die der Relativierung und Nachdenklichkeit.
Indem die Besonnenheit und Zurückhaltung der Kriegsstrategen vorgeführt wird, wird dem ersten Aufkommen von Opposition der Wind aus den Segeln genommen und der Kriegsmaschine die Zeit verschafft, die sie braucht, um von der Mobilmachung zum Angriff zu kommen. Wie schon 1991 im Irak-Krieg wird der Öffentlichkeit vorgemacht, daß kein Grund zur Besorgnis besteht, denn die Kriegsziele seien klar, präszise, mit chirurgischer Präszision auszumachen und auszuschalten. Wo dies in linksliberalen Medien erleichtert aufgenommen und gelobt wird, zeigt es nur deren Unfähigkeit zur Analyse der Situation. Wer Präsident Bush allzuoft auf Seite drei als dummen kleinen Jungen karikiert hat, der unberechenbar jähzornig sein könnte, glaubt vielleicht am Ende selbst, so laufe „große Politik“ wirklich. Aber auch der Zweifel an solchen Thesen findet seine Plattform. „Clean war“ oder „dirty war“ – aber „war anyway“.
Ich bezweifle nicht, daß die führenden Köpfe der westlichen Allianz wirklich wütend sind und daß der Rachegedanke als motivierender Faktor und Legitimationsmuster eine wichtige Rolle spielt. Aber ebenso klar ist, daß strategische Planungsstäbe in den diversen Sicherheitsräten und Gremien keineswegs emotional handeln, sondern kalt kalkulierend jetzt alte Pläne hervorholen oder neue entwickeln, die von konkreten Interessen bestimmt sind und nicht von Wut, und zwar von Interessen eines breiten Spektrums zwischen lokaler Taktik und Geostrategie. Auch die früheren „Vergeltungsschläge“ folgten solchen Interessen. Die Logik dieser Interessen ist kritisierbar, ebenso wie die Logik der Interessen islamistischer Gruppen, aber nichtsdestotrotz existieren beide.
Der Islamismus, zu dem ich weiter unten im Exkurs zum Islam noch mehr schreibe, ist weder ein einheitliches Projekt noch eindeutig abgrenzbar gegen „den Islam“ oder „die arabischen Massen“. Der Islamismus, der jetzt als Feind des Abendlandes ausgemacht wird, ist in den letzten dreißig Jahren langsam herangewachsen und hat sich in der islamischen Revolution im Iran 1979 erstmals lautstark artikuliert. Seit damals wird im Abendland die Furcht vor dem „clash of civilisations“ gehandelt. Im Westen hat das eine neue „Domino-Theorie“ entstehen lassen, mit der Folge, daß die Geostrategie stark darauf ausgerichtet ist, keine weiteren strategisch wichtigen Staaten „kippen“ zu lassen (etwa Saudi-Arabien, Ägypten, Türkei).
Ich würde vermuten, daß der Abbruch des Irak-Feldzuges 1991 durchaus in diesem Zusammenhang zu sehen ist. Der Fortbestand des Hussein-Regimes bedeutete dreierlei: Die Region blieb instabil und für westliche Interventionen offen, die Vermeidung eines Machtvakuums im Irak verhinderte eine Ausdehnung des Hinterlandes der PKK (Kurdistan), und etwaigen islamistischen Kräften im Irak wurde der Zugang zur dortigen Macht versperrt. Für die radikale islamistische Bewegung gibt es heute zwar regionale und soziale Basen, aber auf nationaler Ebene sehen sie sich nicht nur mit den lokalen Regimes, sondern eben auch mit den westlichen Interessen konfrontiert. Die Mobilisierung der islamischen (nicht nur der arabischen!) Massen zum internationalen Aufstand dagegen ist ihre einzige reale Chance.
Das ist das derzeit öffentlich vielzitierte Problem der westlichen Militärmaschine: Wie einen Krieg führen, ohne den Aufstand der Muslime zu provozieren? Wie mache ich ein Flächenbombardement, ohne einen Flächenbrand auszulösen? Ich möchte vermuten, sie werden keine Lösung finden. Wahrscheinlich ist eine Entwicklung, die dem Vietnam-Krieg ähnelt: Eine Stärkung regionaler Mächte durch Waffen, Berater und Spezialeinheiten, eine nachfolgende langsame Steigerung der Eskalation, verbunden mit der Hoffnung, der Wegfall von Sowjetunion und China als geostrategische Counterparts werde die Entwicklung grundlegend anders als in Indochina verlaufen lassen.
Ohne diese damalige Konstellation hätten die USA durchaus gute Chancen gehabt, ihren Indochina-Krieg zu gewinnen. Heute werden sie sich statt mit zwei starken Gegenmächten konfrontiert sehen mit einem Sack voll regionaler Flöhe, die verschiedenste Partikularinteressen in den Konflikt hineinmischen wollen, verstärkt durch die Tatsache, daß die übernationale Bindungskraft der „islamischen Identität“ im Falle der Eskalation diverse lokale Teilfronten eröffnen könnte. Ich sehe noch andere Unterschiede zum Indochina-Krieg: Es gibt diesmal von Anfang an eine Medien-Strategie der westlichen Staaten. Dadurch werden die Medien, in Vietnam im scheinbaren Stadium der Unschuld, zum offiziellen Terrain des Konfliktes. Ein Pluspunkt für die Kriegsstrategen. Zweitens, die bereits existierende oppositionelle Mobilisierung gegen Globalisierung und Krieg ist stärker als damals. Ein Minuspunkt für die Kriegsstrategen. Drittens, globale Systeme von Ökonomie und Geldhandel sind instabiler als in den 1960er Jahren. Da wage ich kein Urteil. Für manche Wirtschaftssysteme ist Krieg ja ein wahrer Segen…
Gobale Bewegung
Das bringt mich auf das Thema, das ich oben angekündigt habe: Die Folgen des „day 911“ auf die globale APO.
Es gibt derzeit, soweit ich es beurteilen kann, zwei Ansätze zur Beschreibung der aktuellen Situation der „Globalisierung“. Der eine sagt, im Neoliberalismus kämen die beiden großen ökonomischen Ideologien von Smith (Liberalismus) und Keynes (Regulierung) zusammen und ergänzten sich, deshalb sei der Begriff des Neoliberalismus unverändert aktuell. Der andere meint, das alte Pendelspiel gehe weiter und nach einer Phase des Liberalismus folge nun wieder eine Zeit, in der die „Keynesianer“ Oberwasser bekommen.
In beiden Fällen läßt sich, meine ich, feststellen, daß die bisherige Kritik am Neoliberalismus als entfesselte Gewalt der freien Märkte für das globale Kapital an ihre Grenzen stößt. Denn die ökonomische Globalisierung ist selbst an eine Grenze gestoßen, wo die Krisenhaftigkeit der Gesamtkonstellation dazu zwingt, die Systeme von Staat und Ideologie „nachzuholen“ auf den Stand der Ökonomie. Wir haben uns also darauf einzustellen, daß in nächster Zeit eine ideologische Offensive ansteht, verpackt in teils längst bekannte Begriffe von „Akzeptanzsteigerung“, „Sorgen ernst nehmen“, „notwendige Regularien schaffen“, „Wildwuchs eindämmen“ etc.pp. Das Ziel dieser Offensive ist nicht allein die Ausschaltung der globalen APO, sondern insgesamt die Stabilisierung des wackligen Gesamsystems.
Uns steht eine Mischung bevor aus der Stärkung „demokratischer Strukturen“ (z.B. Europaparlament) und deren gleichzeitiger Ausschaltung durch Sondergremien und Apparate; der autoritäre Staat mit menschlichem Antlitz; die Festung, auf deren Mauern Maschinengewehre stehen, die ohne weiteres nach innen gedreht werden können; ein verstärktes westliches „Neusprech“, in dem Liberalismus und innere Sicherheit verschmelzen zu so etwas wie „freiheitlicher Sicherheitsstaat“ („Krieg bedeutet Frieden“ hatten wir ja schon…). Solange diese ideologische Offensive mit sozialdemokratischem Vokabular daherkommt, wird sie bemüht sein, den liberalen Rand der globalen APO abzufischen. Natürlich wird es keine Tobin-Tax geben, aber es werden andere (Schein-)Regularien gefunden werden, allein schon zur angeblichen Kontrolle der Finanzströme im Rahmen der Terror-Bekämpfung. Ein Teil der globalen APO wird also demnächst verstärkt offene Türen einrennen und in die neue über-nationale Gemeinschaft aufgenommen werden.
Gleichzeitig werden die Verschärfungen im Bereich der inneren Sicherheit neben den weltweiten Flüchtlings- und Migrationsströmen selbstverständlich die (radikale) Linke treffen. Die Heimatfront muß schließlich ruhiggestellt werden. Auch ohne die erstmalige Anwendung der Notstandsgesetze, die derzeit so en passant in den Medien lanciert wird, wird noch genug Repressives aus Innenminister Schilys Pandorabüchse herauspurzeln. Ich führe das nicht weiter aus, denn zu diesem Thema wächst die Textflut innerhalb der Linken bereits unaufhörlich. Die Repression von Göteborg und Genua und der „day 911“ und seine Folgen passen jedenfalls zusammen wie Hand und Handschuh.
Wenn der jetzt beginnende Konflikt tatsächlich eskalieren sollte, können wir uns auf einiges gefaßt machen. Eine Ausweitung auf einen Teil der islamischen Welt (etwa auf Pakistan, Saudi-Arabien, Ostafrika und/oder Indonesien) wird auch hier erhebliche Auswirkungen haben. Dann wird genau das geschehen, was jetzt gerade wort- und tatenreich weggeredet werden soll von den Kriegsstrategen: es wird Pogrome gegen Muslime geben, und neue weltweite Flüchtlingsströme, und eine abendländische Kreuzzugs-Stimmung. Es wird Muslime geben, die den Kampf in die Metropolen zurücktragen. Israel und Juden weltweit werden von antisemitischen Kräften in Mithaftung genommen und angegriffen werden. Die deutsche Linke wird sich erneut an der Frage des Antisemitismus spalten. Der abendländische Haß auf Muslime/Araber, der eine viel kürzere und weniger komplexe Geschichte hat als der Antisemitismus, wird neue Generationen verseuchen.
Die Anti-Kriegs-Bewegung wird sich also möglicherweise mehreren schweren Problemen gegenübersehen:
* ihre Medienpolitik hinkt den Methoden der Gegenseite vorerst weit hinterher und erschöpft sich weitgehend im Beklagen dieser Situation und im Vollstopfen des World-Wide-Web mit Gegeninformationen (im Kriegsfall brauchen die USA nur ein, zwei zentrale Rechner des Internet-„Backbone“ unter Militärkontrolle zu stellen und es ist vorbei mit dem freien Netz).
* die innere Zerrissenheit, schon im Kosovo-Krieg deutlich erkennbar, wird eskalieren. Was sind ein paar nationalistische Menschen aus Serbien oder dem Kosovo, die mit gegen den Krieg arbeiten und demonstrieren wollen, gegen große muslimische oder gar islamistische Gemeinschaften?
* Anti-Semitismus-Frage und Palästina-Konflikt kommen wieder auf die Tagesordnung, von der die deutsche Linke sie seit Ende der 1980er Jahre ständig zu streichen versucht. Nach den widersprüchlichen Erfahrungen der vorangegangenen 20 Jahre haben viele, die meisten, sich verabschiedet von einer öffentlich wahrnehmbaren linken Position dazu (die Anti-Nationalen haben m.E. ein eher instrumentelles Verhältnis zum Anti-Semitismus, die Reste der Palästina-Solidarität sind verstreute Splitter). Wie 1991 wird uns das auch diesmal auf die eigenen Füße fallen.
* die einseitige Ausrichtung auf die USA als Kriegsstrategen verengt die Bewegung inhaltlich und macht sie anfällig für Infiltrationen vom rechten Rand.
Was tun dagegen? Natürlich sich damit beschäftigen. Dabei würde ich drei Punkte in den Vordergrund stellen:
Erstens, die globale APO hat das Potential, der Anti-Kriegs-Bewegung entscheidende Impulse zu geben im Bereich der öffentlichen Mobilisierung und medialen Präsenz sowie bei dem Versuch, nationalistische und egoistische Tendenzen zurückzudrängen. Dafür muß sie sich verstärkt beschäftigen mit der oben beschriebenen ideologischen Offensive und ihre Antwort darauf formulieren.
Ein Teil dieser Antwort könnte schon in diesem Herbst/Winter, etwa in der Mobilisierung gegen das EU-Treffen in Belgien am 14.12., deutlich werden: der Zusammenhang zwischen Kriegsstrategie, Sicherheitsstaats-Ideologie und Globalisierung als Schwerpunkt. Dabei wäre es wichtig, auch die „gemäßigten“ Kräfte soweit wie möglich zu integrieren und sie nicht durch allzu apokalyptische Vorstellungen (bevorstehender Faschismus, letztes Aufgebot, Freund oder Feind, reformistische Spaltungsstrategen…) zu verschrecken. Letztlich sollte die Anti-Kriegs-Bewegung ein Teil der globalen APO sein (und nicht umgekehrt!).
Zweitens, die Linke muß sich darauf vorbereiten, sich in einer Bewegung mit Muslimen wiederzufinden. Das ist eine andere Konfrontation als die christlichen Einflußnahmen in bisherigen Friedensbewegungen, wo Linke sich weitgehend auf Abstand von den religiösen Teilen hielten. Die Linke muß sogar befürchten, daß der ökumenische Schulterschluß zwischen christlichen und muslimischen KriegsgegnerInnen relativ reibungslos verläuft und linke Positionen noch stärker verdrängt. Sie sollte sich deshalb mit ihrem Verhältnis zu Religiösität und Religionen beschäftigen. Dieses Thema ist weitgehend tabuisiert (weshalb ich ihm im Anschluß einen Exkurs widme); für die radikale Linke ist alles in diesem Zusammenhang igittigitt, während im fließenden Übergang zur gemäßigten Linken die Religiösität schleichend zum normalen Faktor, aber meist ebensowenig kritisch thematisiert wird.
Dieses Abwehrverhalten gründet sich m.E. nicht auf Distanz, sondern auf eine teils spiegelbildliche Verwandtschaft mit Religiösität. Das reicht von aufschlußreichen Ähnlichkeiten zwischen dem System der Kommunistischen Partei mit dem Kirchen-System über den utopisch-träumerischen Gehalt von „befreiter Gesellschaft“ vs. „Paradies“ (von TonSteineScherben in den 1970ern dankenswerterweise völlig unreflektiert gleichgesetzt) bis hin zu den Techniken der Sektiererei, des kollektiven Familienersatzes in der jeweiligen „Szene“, der Immunisierung gegen feindliche Außenwelten und der Missionierung. Mit Grausen stelle ich mir das Aufeinandertreffen islamischer und linksradikaler Gruppen auf Vollversammlungen gegen den Krieg vor. Hier sind vor allem diejenigen gefordert, die über die Jahre den Spagat zumindest zwischen fortschrittlichen Muslimen und deutscher Linken überstanden haben und einen Einblick in beide Szenen haben.
Drittens, linker Internationalismus hat bekanntlich seit den 1980er Jahren gelernt, daß es nicht genügt, irgendeine FLN freudig zu unterstützen. Auch die Erkenntnis, daß es Konflikte gibt, in denen eine per se „gute“ Seite nicht auszumachen ist, hat uns klüger gemacht (wie ich hoffe). Immer wieder stehen Linke nicht auf einer von beiden Seiten des Konfliktes, sondern auf einer dritten, ihrer eigenen. Dabei geht es nicht darum, diese dritte Seite in der Welt herumzutragen und als die allgemein richtige zu präsentieren, sondern eine sichere Basis für eigene Positionierung zu Konflikten zu schaffen. Diese dritte Seite, die den Kampf gegen Krieg, Aggression und Herrschaftsideologien beinhaltet, sollten wir jederzeit verteidigen gegen die „Hinein-ins-Boot“-Rufe der jeweiligen Parteien. Und ein wesentlicher Bestandteil dieser eigenen Position ist der Grund und Boden, auf dem sie existiert. Indem wir in der westlichen Metropole leben, ist selbstverständlich unser unmittelbarer Gegner die westliche Kriegsallianz.
Exkurs Islam
Ich möchte noch ein paar Stichworte liefern zu einer möglichen Diskussion über das Verhältnis Linker zum Islam. Selbstverständlich sind wir gegen Opium, also auch gegen Religiösität an sich. Abgesehen von meinem obigen Hinweis auf die unterschwelligen Parallelitäten zwischen Religiösität und (radikalen) linken Politikentwürfen, ist es aber auch deswegen notwendig, solche Diskussionen zu führen, weil Religiösität ein unverändert wichtiger Faktor in der menschlichen Gesellschaft ist. Wer glaubt, dies ignorieren, per Dekret abschaffen oder verbieten zu können, wie es von 1918 (Sowjetunion) bis 1975 (Kambodscha) oft v.a. von kommunistischen Bewegungen versucht wurde, rennt damit gegen die Wand.
Der Islam hat dabei einige Eigenschaften, die ihn für Linke besonders schwer händelbar machen. Er ist mit knapp 1400 Jahren vergleichsweise jung und hat einen stärkeren Missionierungsimpuls und Absolutheitsanspruch als die anderen Weltreligionen. Darüberhinaus ist er identitätsstiftend und überdeckt dabei nationalstaatliche Ideologien (nebenbei bemerkt, im 14.Jahrhundert a.D. sah es in Europa nicht viel anders aus: Kreuzzüge zwar vorbei, aber Papstmacht und Inquisition auf dem Höhepunkt der Macht – Papst Bonifaz VIII. beansprucht 1302 die Weltherrschaft -, Christentum als bindende Ideologie eines Europa, in dem Nationalstaaten gerade erst mühsam entstanden…). Muslime betrachten sich normalerweise in erster Linie als Muslime, dann erst als Angehörige eines bestimmten Staates (was in den USA gerade medial zurückzudrängen versucht wird).
Dieser Effekt der Solidarität und bedingten Abwehr gegen nationalistische Ideologie bietet linker Kritik weniger Angriffsfläche als der aggressiv-kolonialistische Charakter des historischen Katholizismus im Pakt mit Staatsapparaten.
Der Islam entstand vermutlich auch aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der christlichen Religion. Es ist kein Zufall, daß im Islam die Existenz einer zentralen Macht (Papst, Kirche) nicht vorgesehen ist und die Auslegung der Schrift von vorneherein als ständiger Prozeß der Auseinandersetzung und Forschung gedacht war (die Fikh). Das läßt sich interpretieren als Versuch, die (unveränderliche) Schrift des Quran unangreifbarer und mächtiger zu machen, aber eben auch als Ansatz, das Entstehen von Machtstrukturen von Anfang an zu erschweren.
Wie das Neue Testament läßt sich auch der Quran zumindest in Teilen im historischen Zusammenhang als gesellschaftlich fortschrittlicher Entwurf lesen. Es ist höchst umstritten, inwieweit durch falsche Transkriptionen, fehlerhafte Übersetzungen und willkürliche Auslegungen Aussagen des Quran verfremdet oder in ihr Gegenteil verkehrt wurden (ganz zu schweigen vom manipulativen Gebrauch der „Hadithe“, der Zitate Muhammeds). Nichtsdestotrotz bleibt er eingebunden in eine gesellschaftliche Realität, in der er in seiner Entstehungszeit womöglich ein quasi sozialdemokratisches Programm darstellte, wenige Jahre nach Muhammeds Tod aber bereits ein Spielball alter und neuer Eliten war, die damit die patriarchale und ökonomische Herrschaft befestigten. Aber genau wie das Neue Testament immer wieder Linke, auch radikale, dazu angeregt hat, über den revolutionären Gehalt des Ur-Christentums nachzudenken (bis hin zur Befreiungstheologie), bietet der Quran Ansatzpunkte für solche Beschäftigungen.
Nicht wenige Deutsche, die in den vergangenen Jahren zum Islam übergetreten sind, kommen aus dem linken Milieu. Die Attraktivität einer klaren, utopischen Lehre mit viel Kollektivismus und Solidarität, die nur noch vom Schmutz der realen Verhältnisse gereinigt werden muß (durch „richtige Interpretation“), paßt eben durchaus in linke Sozialisationen.
Das bisherige war vor allem die Theorie. Wir wissen, daß sie gerne ihre eigenen Wege geht. Der Islam nicht als Quran und Religionswissenschaft, sondern als gesellschaftliche Praxis muß gesondert betrachtet werden. In der arabischen Welt hat er im Wechselspiel mit den anderen gesellschaftlichen Faktoren über die Jahrhunderte vor allem zu einer stagnierenden, rückwärtsgewandten Ideologie geführt.
Dazu beigetragen hat mit Sicherheit zum einen die extreme patriarchale Verknöcherung der Gesellschaft (wobei es hier durchaus auch kritische Stimmen über das überhebliche Urteil westlicher Sichtweisen gibt), die offene Frauenfeindlichkeit eines bedeutenden Teils der islamischen Männergemeinschaft; zum anderen die politische Entwicklung: denn in globaler Betrachtung hat das System der starken Nationalstaaten mit ihren Ökonomien sich durchgesetzt, während das islamische Modell des schwachen Staates mit starker religiöser Ideologie seit 500 Jahren meistens Niederlagen einsteckt (mal abgesehen vom osmanischen Reich). Es ist nur folgerichtig, daß die regionalen Eliten und solche, die es werden wollen, auf Auswege sinnen. Die antikolonialen Befreiungskämpfe und nachfolgenden Versuche, starke arabische Nationalstaaten zu schaffen, waren die Antwort des 20.Jahrhunderts (z.B. Nasser in Ägypten, die diversen Projekte der „Vereinigten Arabischen Republik“ mit Libyen und Syrien, die „Macht durch Öl“ vor allem der saudischen Eliten). Die Nationalstaaten sind schwach geblieben, der globale Kuchen war schon verteilt.
Mit der islamischen Revolution im Iran 1979 ist ein neues Konzept sichtbar geworden, das seitdem wächst. Der Islamismus ist ein weiterer Versuch, Herrschaft zu formieren und zu transformieren. Wenn der Staat nicht zum Islam kommt, muß der Islam eben zum Staat kommen und sich einen säkularen Machtapparat schaffen. Islamistische Gruppen haben deswegen durchaus verschiedene Projekte. Glaube niemand, islamistische Gruppen seien isolierte Terrorkommandos, die keinen Bezug zu „den Massen“ hätten und denen das auch egal sei, weil sie nur an Bomben denken! Sie arbeiten sozial, innerhalb der Massen, schaffen sich und ihrer Ideologie damit eine Basis, ausgehend von ihrer Trumpfkarte, der Religiösität. Hamas hat als soziale Hilforganisation innerhalb der ersten palästinensischen Intifada begonnen, nicht als wütende Terrorgruppe. Natürlich gibt es, wie bei jeder Bewegung, radikale Ränder und vergleichsweise gemäßigte Zentren. Der Islamismus ist nicht an sich und grundsätzlich terroristisch, aber zu ihm gehört die Mobilisierung von kollektiver Aggression und Ängsten, von Antisemitismus (im Islam bereits latent angelegt durch die historische Feindschaft der Juden von Medina gegen Muhammed), Frauenhaß und Rassismus. Er steht damit, wenn wir nach Vergleichen aus unserem politischen Wertesystem suchen wollen, dem Faschismus näher als irgendeiner anderen Kategorie.
Daß eine Linke, die das Thema Religiösität meidet und über Islam wenig weiß, keine gründliche Auseinandersetzdung mit Islamismus vorweisen kann, ist nur folgerichtig. Daraus lassen sich aber keinesfalls Affinitäten ableiten. Die Distanz ist einfach zu groß. Dies ist, ebenso klar, ein Widerspruch zur Realität in einigen deutschen Großstädten, v.a. Berlin, wo etwa in Kreuzberg Islamisten und Linke ebenso eng nebeneinanderherleben und sich ignorieren wie seit über zwanzig Jahren türkische Faschisten und deutsche Linke. Das liegt übrigens eng beeinander: die Türkei als Bindeglied zwischen Abend- und Morgenland kennt Faschisten wie Islamisten, und, was Wunder, sie passen meist gut zusammen. Es gibt zwischen ihnen und deutschen Linken eine Art unausgesprochenes Stillhalteabkommen, vielleicht wie an der Wüstenoase zwischen gemeinsam trinkenden Löwen und Zebras (aber wer ist Löwe, wer ist Zebra?).
Die deutsche Linke muß sich mit Islamismus nur sehr bedingt beschäftigen, eben wie mit Faschismus: ausgehend vom Bedrohungspotential, nicht vom gesellschaftstheoretischen Interesse. Aber sie sollte ihn verstehen lernen, und dazu gehört auch eine Beschäftigung mit Islam und mit Religiösität an sich. Wer das versäumt, wird in ein paar Jahren möglicherweise ratlos vor wütenden muslimischen Jugendlichen stehen, die der Anti-Kriegs-Bewegung die Gottlosigkeit austreiben wollen.
Veröffentlicht von Sven Glückspilz bei Indymedia und trend – online-Zeitung für die alltägliche Wut Anfang Oktober 2001