Vorbemerkung: Dieser von meiner Mister-Hyde-Identität „Sven Glückspilz“ verfasste Text war eine der ersten ausführlichen Stellungnahmen zu den Ereignissen rund um den G8-Gipfel von Genua (18-22. Juli 2001) aus linksradikaler Perspektive. Ich muss dazu allerdings vorausschicken, dass ich damals in Genua nicht dabei war, sondern mich auf persönliche und Medien-Berichte von dort sowie auf meine Lebenserfahrungen stützte. Ich denke, dass die Feststellungen und Schlussfolgerungen in dem Text von dieser „Authentizitätslücke“ kaum in Mitleidenschaft gezogen wurden.
Schreiben wir die Geschichte vom Gipfel in Genua. Wie wird sie aussehen? Etwa so?
200.000 Menschen versammelten sich, um friedlich zu demonstrieren. Gleichzeitig tauchten ca.400 Vermummte auf, ein organisierter „Black Block“. Dieser Block bestand aus Zivilpolizisten, aus Faschisten, und zu einem kleinen Teil auch aus verwirrten vornehmlich deutschen Krawallmachern. Der Block zog zwei Tage lang unbehelligt marodierend durch Genua, griff friedliche DemonstrantInnen an, richtete einen Sachschaden von fünfzig Millionen Euro an, indem er systematisch kleine Läden und Privatwagen zerstörte. Wo er auftauchte, wich die Polizei zurück und griff stattdessen friedliche DemonstrantInnen brutal an. Nach getaner Arbeit zog der „Black Block“ sich in eine Carabinieri-Kaserne zurück oder verwüstete sozusagen zum Abwärmen noch ein Gebäude, das die Stadt Genua für Übernachtungen zur Verfügung gestellt hatte. Zuletzt war das geheime strategische Ziel dieser Aktion erreicht: Niemand sprach mehr in der Öffentlichkeit von den politischen Zielen der DemonstrantInnen oder von der GAPO, alle empörten sich nur noch über die Gewaltexzesse militanter Linker.
An diesem Bild wurde in den Tagen seit Genua von vielen eifrig gestrickt. Von AugenzeugInnen und Betroffenen ebenso wie von politischen RepräsentantInnen der „gemäßigten“ Linken oder von liberalen Medien.
Hier wächst zusammen, was nicht zusammengehört: Einzelfälle, Wünsche oder Befürchtungen, politische Grundüberzeugungen und Einschätzungen, Verschwörungstheorien und Gerüchte, alles vereint von dem einen Bedürfnis: eine kurze, einfache Erklärung zu finden für die komplizierte, widersprüchliche Wirklichkeit.
Meine Geschichte von Genua sieht anders aus. In dieser Geschichte gibt es jedes der Einzelerlebnisse, die erzählt werden, doch das Mosaik, das daraus zuletzt entsteht, ist nicht das Bild von Strategien und Verschwörungen.
Dreh- und Angelpunkt ist die Frage, wer die Militanten waren, was sie taten, und wie sich die Polizei dazu verhielt.
Das Vorfeld des Gipfels: Es war seit langem klar, daß Genua der bisherige Höhepunkt der Globalen Außerparlamentarischen Opposition (GAPO)(*) Mobilisierung werden würde. Die Bewegung ist seit Seattle sprunghaft angewachsen. Sie ist besonders in Italien stark. Die gesamte italienische außerparlamentarische Linke ist in den letzten Jahren stärker und mobilisierungsfähiger geworden. Das italienische Demonstrationsrecht ist vergleichsweise liberal, die Gesellschaft ist offen für Strassenproteste. Norditalien ist für fast alle Menschen aus dem EU-Raum leicht erreichbar. Es ist Sommer und Urlaubszeit.
Es war also schon lange klar, daß sehr viele Menschen nach Genua kommen würden.
Die Mobilisierung wurde verstärkt durch die Medien, die auf das Spektakel gieren und seit Seattle 1999 jeden Gipfel entsprechend vorbereiten. Die Ereignisse in Göteborg haben der Mobilisierung zuletzt noch einmal einen starken Schub gegeben. In gewisser, vermutlich nicht so beabsichtigter Weise war Göteborg sogar eine Generalprobe für Genua. Sie zeigte unter anderem, daß die Massenmedien gerne bereit sind, selbst Schüsse auf DemonstrantInnen (nun ja, immerhin: militante DemonstrantInnen) unter ferner liefen abzubuchen und den selbsternannten Hütern von Sitte und Anstand, Recht und Ordnung willig in den Arsch zu kriechen, wenn sie zur Hatz blasen.
Der Charakter der „Entscheidungsschlacht“ wurde Genua schon im voraus angeheftet, worunter sich aber durchaus verschiedenes vorgestellt wurde. Es konnte bedeuten, daß durch den politischen Druck der GAPO die G8-Gipfel an sich unmöglich gemacht würden. Oder daß die Struktur der Gipfel sich ändern müßte. Oder daß der GAPO-Bewegung ein entscheidender Nackenschlag versetzt würde. Oder daß die Eskalation unkontrollierbar werden würde. Mir schien das letztere schon im Vorfeld wahrscheinlich, und ich war nicht der Einzige, der mit einer Zuspitzung bis hin zu Toten rechnete. Dieses Risiko war ich bereit, auch selbst einzugehen.
In den Tagen vor dem Gipfel wurde der politische Druck auf die GAPO verstärkt. Es wurden die altbekannten Horror-Szenarios ausgepackt, die sich gegenseitig aufschaukelten. Wir in Berlin kennen das vom IWF-Kongreß 1988, als die Sicherheitsbehörden schon Monate vorher ankündigten, „mit der autonomen Szene aufzuräumen“, was viele AktivistInnen so einschüchterte, daß sie während der Gipfel-Tage verkleidet in Hotels untertauchten. Oder: Im Jahr 2000 verkündete der Berliner Innensenator kurz vor dem 1.Mai voller Sorge, es sei bei der Mai-Demonstration mit Toten zu rechnen.
Die bekanntermaßen gedächtnislosen Massenmedien lieben solche Hetze und verbreiten sie gerne. Das Ziel ist klar: Menschen sollen von der Teilnahme abgeschreckt werden, brutale Repression soll im voraus gerechtfertigt werden. Wenn dann alles anders kommt als vorher behauptet, wird es als Erfolg der Sicherheitsstrategie verbucht. Same procedure as every year…
Die verschärften Grenzkontrollen und Ausreiseverbote bestätigten Befürchtungen gegenüber den EU-Sicherheitsstrategen. Genua selbst wurde in den Tagen vor dem Gipfel in einen gefährlichen Ort verwandelt, es gab Kontrollen und Festnahmen und bereits erste Fälle von Polizeigewalt mit faschistoidem Hintergrund. Hinzu kamen einzelne Fälle von Terror, die Erinnerungen an die italienische „Strategie der Spannung“ der 70er Jahre weckten, also an Anschläge faschistischer und/oder polizeilicher Provokateure.
Die GAPO spielte das Spiel der Aufheizung teilweise mit. Die extreme Polizei-Brutalität in Seattle und nun in Göteborg hatte ihren Teil dazu beigetragen, Schlimmes zu erwarten. Im Spannungsfeld zwischen Göteborg und Genua wurden „normale“ Vorkehrungen für Großereignisse, wie etwa die Bereitstellung von Leichensäcken, in der Linken zu Schreckensmeldungen aufgeblasen. Zumindest in Deutschland wurde allgemein damit gerechnet, daß hunderte oder gar tausende von Menschen an den Grenzen zurückgewiesen, in Italien in Vorbeugehaft genommen oder sonstwie aufgehalten werden würden.
Wider Erwarten waren die Grenzen durchlässig, und die Reise nach Genua dauerte zwar lange, aber es kamen die meisten an, konnten sich versorgen und Übernachtungsplätze finden. Genua war im Ausnahme-, aber nicht im Belagerungszustand. In den Tagen vor dem Wochenende waren die Angereisten vielfach damit beschäftigt, sich zu sortieren; wer nicht an die großen Organisationen angeschlossen war, versuchte, Übernachtung, Versorgung und Ausrüstung zu organisieren und Bekannte bzw. politisch Gleichgesinnte zu finden. Bereits in diesen Tagen wurde klar, daß die Dominanz des GSF und seine eindeutige Position gegen Militanz und Militante zu Konflikten führen würde. Es gab diverse Plena und Versammlungen kleinerer Gruppen und Versuche, sich irgendwie außerhalb der dominanten Kräfte zu organisieren, die aber nicht viel mehr als allgemeine Absprachen über Sammelorte brachten.
Der Donnerstag verlief so, wie es geplant war: unter anderem mit der friedlichen Großdemonstration für und von MigrantInnen, mit Festen und viel guter Stimmung. Es war auch für alle Militante klar, daß dieser Tag friedlich verlaufen sollte. Keine polizeilichen oder faschistischen Provokateure nutzten die hervorragende Gelegenheit: Dabei wäre mit Randale schon am ersten Tag das Konzept der GAPO sofort gesprengt worden, die Lage wäre verwirrt und zugespitzt gewesen, polizeiliches Eingreifen an den Sammelplätzen, Angriffe auf die GAPO-AKtivistInnen, während sie noch anreisten bzw. sich noch nicht in der Stadt formiert hatten, wären legitimiert worden.
Am Freitag befanden sich viele hundert, vielleicht auch schon tausende Militane in Genua. Sie kamen aus allen möglichen Ländern, vor allem natürlich aus Italien, viele aber auch aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Spanien. Sie verfügten weder über eine organisierte Struktur noch über ein gemeinsames Konzept. Hergeführt hatte sie allein das politische Grundverständnis: der Gipfel muß angegriffen werden, und zwar nicht nur verbal, sondern praktisch, indem die Rote Zone attackiert wird – und die Polizei, da sie diese Zone verteidigt. Dabei war (fast) allen sicherlich klar, daß es unmöglich sein würde, einem Bush, Berlusconi oder Schröder nahezukommen. Selbstverständlich würde die Polizei scharf schießen, wenn tatsächlich ein Durchbruch in die Rote Zone gelingen würde. Wer das, spätestens nach Göteborg, nicht glaubte, war naiver als die Polizei erlaubt. Auch der praktische, militante Angriff würde also ein symbolischer sein, aber mit der klaren Aussage: wir begnügen uns nicht mit kritischer Rede und dem Schwenken von Fahnen. Für uns Militante gibt es keine Brücke, über die wir an den Katzentisch der Mächtigen gehen würden. Wir wollen nicht als NGO anerkannt werden. Wir wollen keine Vorschläge zur Verbesserung der WTO oder des IWF machen. Wir halten das gesamte Weltwirtschaftssystem für einen Haufen Scheiße.
Alternativen? Uns geht es wie allen: wir haben kein funktionierendes Modell anzubieten. Uns kann niemand erzählen, daß ein anderes Weltbank-Präsidium, eine internationale Kapitalbesteuerung, eine rot-grüne „Entwicklungspolitik“ oder ein noch etwas weitergehendes Kyoto-Protokoll das Elend der Menschen beheben kann. Wir denken, daß etwas neues praktisch erprobt werden muß, denn alle großen Pläne sind gescheitert. Und die, die da hinter Zaun und Polizeikette friedlich an ihren Konferenztischen sitzen, werden das mit aller Gewalt zu verhindern suchen. Deshalb muß die Gewalt an diese Tische zurückgetragen werden.
Innerhalb der Militanten gibt es allerdings sehr unterschiedliche politische Identitäten und Vorstellungen. Es gibt Menschen (wie z.B. mich), die es richtig finden, daß Militanz als Verstärker für politische Themen in der Öffentlichkeit wirkt, auch wenn sich als VertreterInnen dieser Themen meistens gemäßigte Linke profilieren, denen ich ansonsten in vielem nicht zustimmen kann. Anderen Militante ist das ganz egal, weil sie sich selbst stark genug finden und all das reformistische Gerede für unwichtig halten, oder sogar für schädlich und feindlich. Wieder andere machen sich darüber gar keine Gedanken, weil es ihnen vor allem um ihre eigene Wut, ihren ganz persönlichen Kampf gegen das HERRschende Gesellschaftssystem geht. Schließlich tummeln sich am diffusen Rand dieser Szene auch einige, die gegen „Politik“ allgemein sind, ob rechts, links, staatlich, oppositionell…
Wie gesagt: die Militanten hatten keine funktionierende Struktur, keinen Plan, außer „Hin zur Roten Zone“. Es gab einzelne Gruppen, die sich mit anderen absprachen, eher spontan als von langer Hand vorbereitet, und es gab viele gänzlich unorganisierte lose Grüppchen und Einzelpersonen. Es gab wenig vorbereitete Ausrüstung und kaum Sammelpunkte. Gerade viele von weiter weg Angereiste hatten anfangs weder Material dabei (weil sie nicht damit gerechnet hatten, es bis Genua durchzubekommen) noch ein gemeinsames Camp (weil sie mit Polizeiangriffen rechneten) und verbrachten die kurze Vorbereitungszeit vor Ort vor allem damit, diesen Mangel zu beheben. Die Versuche, in Absprache mit Organisationen zu einem der Sammelorte zu mobilisieren, waren nicht sehr erfolgreich. Alle teils wohlgesonnenen, teils diffamierenden Berichte über die großen Pläne und perfekten Strategien der Militanten sind – leider – nicht wahr. Nicht einmal in der Frage, ob der entscheidende Angriff auf die Rote Zone am Freitag oder am Samstag anstehen würde, gab es Einigkeit.
Das zeigte sich am Freitag in aller Deutlichkeit. Eines der wenigen übergeordneten klaren Konzepte der GAPO für den Freitag war der Beginn der direkten Aktionen, nämlich 14 Uhr. Südöstlich der Roten Zone begannen aber bereits um 13 Uhr die ersten Auseinandersetzungen, und nicht die Polizei hat sie angefangen, sondern Militante, die eine Bank entglasten. Wie unorganisiert und unvorbereitet die Militanten waren, zeigte sich auch daran, daß in dieser Anfangsphase die Polizei sie rasch zurückschlug und zersprengte. In der Folgezeit verteilten sich Militante chaotisch in Gruppen nach Norden und Süden, während die Polizei relativ passiv blieb und vor allem ihre „Vorwärtsverteidigung“ der Roten Zone durchführte: durch massiven Gas-Einsatz und einzelne Ausfälle hielt sie ihren Bereich, kontrollierte aber kaum das Geschehen weiter außerhalb. Für viele Militante entschied sich die Schlacht schon in dieser ersten Stunde. Die Kräfteverhältnisse waren so ungleich, daß der „Sturm“ auf die Rote Zone mehr dem Versuch ähnelte, durch militantes Posaunen ringsherum die Mauern von Jericho zum Einsturz zu bringen, sprich: durch einzelne Angriffe auf die Polizei und das Zerstören von Banken u.ä. den Eindruck der „militanten Straßenkämpfe“ politisch wirksam werden zu lassen, aber keinen wirklichen militanten Angriff auf die Rote Zone durchzuführen.
Es gab keinen „Black Block“, sondern ein wildes Durcheinander verschiedenster Menschen, schwarz und bunt gekleidet, vermummt oder unvermummt: überzeugte Militante; spontan vor Wut Explodierende; Gewaltfreie in Notwehr; Stadtbewohner als Gelegenheitsautonome; betrunkene Nihilisten… entsprechend zielgerichtet (oder auch nicht) waren die Aktionen. Wer Steine aufgrund politischer Strategien wirft, wird normalerweise genauer zielen als die, die aus momentaner Wut über Polizeigewalt oder aus einem diffusen Gemisch von Spannung, Abenteuer und Gelegenheit heraus gewalttätig werden. Steine werden allzu oft blindlings geworfen, treffen andere DemonstrantInnen, Fensterscheiben, Autos. Es sollte übrigens nicht vergessen werden, daß auch die Polizei eine Menge Schäden anrichtet bei ihren Einsätzen! Doch auch Militante haben schon mal danebengeworfen…
Diese Entwicklung und die damit einhergehende Ausbreitung der Randale auf weitere Stadtteile war Ergebnis der praktischen Situation und kein überlegtes Konzept! Aber damit wurden natürlich anderswo Menschen und Konzepte in Mitleidenschaft gezogen. Es ist anzunehmen, daß die Demo der Tute Bianche so oder so von der Polizei gewaltsam aufgehalten worden wäre, aber dadurch, daß dieses Zusammentreffen in einer Gegend stattfand, in der es vorher schon geknallt hatte und die dortigen Akteure mit den Tute Bianche zusammentrafen und sich teils vermischten, wurde die Situation sehr viel unübersichtlicher und unkontrollierbarer. Das galt genauso für die Polizei (und ihre Führung), die oft planlos agierte, vorstieß, sich wieder zurückzog; die Militanten verfolgte, aber dabei niederknüppelte, was gerade im Weg stand, und sei es ein friedliches Straßenfest; die ihr Gas in solchen Massen verschoß, daß die eingesetzten Polizisten selbst fast kotzten.
Vielleicht hatte die Polizei ihre eigenen Horrorgeschichten mehr geglaubt als sonst jemand und sich mit ihrer anfangs defensiven Haltung auf ein Ausmaß von Angriffen eingestellt, das so überhaupt nicht stattfand und nicht stattfinden konnten, weil die Voraussetzung – ein entsprechend vorbereiteter militärischer Gegner – fehlte. Das könnte helfen, zu erklären, warum die Polizei widersprüchlich agierte, indem sie am einen Ort zurückwich oder gar nicht erst anrückte, an anderen Stellen dafür schon an diesem Tag äußerst brutal zuschlug. Nicht zu vergessen ist dabei auch, daß es verschiedene Einheiten waren, deren Motivation, Ausbildungsstand und Führungsstruktur oder auch die Durchseuchung mit Faschisten sich unterschied. Dazu kommt die Schwierigkeit, ein Heer von solcher Größe sinnvoll zu manövrieren – ein Problem, daß auch die Berliner Polizei trotz all ihrer Erfahrung nicht meisterte am 1.Mai 2001, als sich tausende von Anti-Riot-Polizisten in Kreuzberg gegenseitig blockierten.
Die Schüsse auf Carlo Giuliani waren der folgerichtige Höhepunkt dieser chaotischen Eskalation und brachen ihr die Spitze, zumal die Tute Bianche in dieser Situation sich für den Rückzug entschieden. Die Alternative wäre gewesen, weitere Tote in Kauf zu nehmen, denn auf beiden Seiten war viel Haß, Angst und Verwirrung vorhanden, und daraus werden schnell weitere Eskalationen. Es gab Gerüchte über weitere Tote und schießende Polizei, und es gab andererseits bereits gewaltsame Aktionen, die auch Militante in keiner Weise rechtfertigen konnten.
In Genua waren vermutlich noch ein paar andere „Militante“: etwa Under-Cover-Agenten, wie es sie in jeder radikalen Bewegung gibt (auch bei ganz gewaltfreien); Hooligans oder Faschisten, die die Aussicht auf Randale im Schutz breiter Massen zum Abenteuer reizte; ideologische Provokateure, die durch terroristische Aktionen die Militanten diskreditieren wollten; aber wieviele waren es? und welchen Einfluß hatten sie auf den Verlauf der folgenden Tage? Ich möchte vermuten, es waren nur sehr wenige, und sie hatten nicht viel Einfluß. Die bisher veröffentlichten Fotos zeigen gewöhnliche, nicht einmal besonders gut verkleidete Zivilpolizisten, wie sie als Schlägertrupps leider nur zu üblich sind. Die kursierenden „Berichte“ über Zahl und Bedeutung der Provokateure sind, ich gehe jede Wette ein, maßlos übertrieben und setzen sich zusammen aus Halbwissen, Gerüchten und sehr subjektiven Interpretationen.
Die Verschwörungstheorie von den vermummten Provokateuren ist steinalt und taucht in trauriger Regelmäßigkeit auf, wenn bei politischen Großereignissen das ganze Spektrum der Linken aufeinandertrifft. Es gibt im wesentlichen drei Gruppen der Linken, die diese Theorie vertreten: Ersten Kommunisten, in deren Augen alles Provokation ist, was ihren Strategien nicht entspricht – sie sind nicht gegen politische Gewalt an sich, sondern halten den Zeitpunkt für verkehrt. Zweitens liberale Linke, vor allem RepräsentantInnen von Organisationen und Bewegungen, die für sich noch Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen des HERRschenden Systems sehen und oft auch persönliche Karrieren, und die in ihrer Egozentrik glauben, politische Gewalt sei stets eine gesteuerte Intrige gegen ihre Ambitionen. Drittens Gewaltfreie, die vom hohen moralischen Roß der wahren Lehre herab meinen, behaupten zu dürfen, linke Politik müsse stets gewaltfrei sei und deswegen könne logischerweise niemand zur Linken gehören, der oder die anderes praktiziert. Ach übrigens: schon Martin Luther, der große Reformist (Reformator), hetzte ca.1525 gegen die „mordischen und raubischen Rotten der Bauern“, nachdem ihm der Aufstand ebendieser Bauern zu erheblichem politischen Einfluß mitverholfen hatte.
Zur Verschwörungstheorie gehört auch, die eigene Beobachtung oder Vermutung für wichtiger zu halten als sie ist. Manche begegnen wirklich einem vermummten Provokateur (sei es nun ein Polizist, der planvoll handelt, oder ein betrunkener Punk, dem alles egal ist), können sich aber nicht damit abfinden, eine kleine Einzelgeschichte erlebt zu haben, sondern basteln sich daraus ein Szenario, wo Provokateure „führend“, „inszenierend“ etc. tätig sind.
Zurück nach Genua. Die Nacht von Freitag auf Samstag war von Anspannung und Erschöpfung geprägt. Viele waren schockiert und mitgenommen: von der Brutalität der Polizei, von Ausmaß und Heftigkeit der Kämpfe, von den massiven Gaseinsätzen, von Auseinandersetzungen mit Gewaltfreien (die auch mal zuschlugen), von den Horrormeldungen über Tote und Verletzte. Dazu kam die Ungewissheit über das Kommende: würde die Polizei die Camps angreifen, würde die Demonstration am Samstag verboten werden, würden die Kämpfe noch mehr eskalieren, würde es weitere Tote geben? Kaum jemand hatte noch Kraft und Muße, eine Analyse des Tages vorzunehmen und für den Samstag zu planen, schon gar nicht in Absprache mit anderen Gruppen.
Die Militanten wollten an der Großdemonstration teilnehmen, möglichst als eigener Block, und sich nicht von liberalen Gruppen ausgrenzen lassen, aber sie wollten auch am Samstag weiter die Rote Zone angreifen und die Polizei, die sich am Freitag nicht gerade Freunde gemacht hatte. Es war klar, daß die Gräben zwischen den Linken über das richtige Verhalten nach der Eskalation vom Freitag breiter geworden waren: es gab weniger Unentschlossene, mehr Militante und mehr Gewaltfreie. Es sei daran erinnert, daß 195.000 nicht-militante DemonstrantInnen nicht gleich 195.000 Gewaltfreie sind – es sind viele dabei, die sich noch nicht entschieden haben oder Militanz gut finden, aber persönlich nicht praktizieren, und viele halten sich für friedlich, bis sie das erste Mal von der Polizei zusammengeschlagen wurden… Am Samstag waren tausende voller Wut, vor allem wegen der Schüsse auf Carlo Giuliani, aber auch wegen des allgemeinen Terrors vom Freitag.
Die Polizei hatte ihre Taktik gegenüber dem Freitag geändert. Es ist anzunehmen, daß es politischen Druck gab. Die Berichte über ungestört sich austobende Militante, über Plünderungen und Brandlegungen, waren zwar insgesamt übertrieben, konnten aber die Polizeiführung nicht ruhig schlafen lassen. Für die Polizei sah es so aus: am Freitag hatten ein paar tausend Militante sich viel herausgenommen, und zehntausende DemonstrantInnen hatten ihnen meistens Rückendeckung geboten. Die Polizei hatte schon von Anfang an eine Art vorauseilenden Generalpardon von oben für jede Art von Terror bekommen, nun machte sie Ernst damit, indem alle zum Feind erklärt wurden, die auch nur im Umkreis von Auseinandersetzungen waren. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß zehntausende (nämlich vor allem der Nordteil der Demonstration) weitgehend verschont blieben und außer herübergewehten Gasschwaden kaum etwas mit- oder abbekamen von den Auseinandersetzungen.
Der südliche Teil der Demo wurde dafür aufgemischt. Auch hier gilt, wie so oft bei solchen Konflikten, daß die Frage „wer hat angefangen“ hinterher heftig diskutiert und nicht eindeutig entschieden wird, wobei die Antwort vor allem für diejenigen von Bedeutung ist, die politische Gewalt nur als unmittelbare Notwehr gegen Polizei-Angriffe verstehen und legitimieren können. Tatsache ist aber, daß es in jedem Fall geknallt hätte. Ob nun ein Stein oder eine Tränengasgranate zuerst flog, spielt keine Rolle. Die Militanten hatten es nicht einmal geschafft, einen eigenen Block zu bilden, sie schlidderten fast ansatzlos in die Fortsetzung der chaotischen Kämpfe des Vortages hinein. Ein paar Gruppen griffen die Carabinieri an, andere waren defensiv und bauten Barrikaden, und die Polizei holte nun zum großen Gegenschlag aus: die Rache für den Freitag begann, und diese Rache hatten nicht nur die Militanten zu erdulden, sondern auch viele, die keinen Anteil an den Kämpfen des Freitags gehabt hatten. Auf der anderen Seite hatten die Ordner und Funktionäre der gemäßigten Gruppen alle Mühe, ihre junge Basis vom Steineschmeißen abzuhalten, und oft blieben sie dabei erfolglos.
Der Tag verlief ähnlich chaotisch wie der Freitag. Die Rote Zone war für die Militanten noch unerreichbarer geworden als zuvor, was aber letztlich unwichtig war: denn was hätte denn geschehen sollen, wenn tatsächlich ein paar versprengte Häufchen dort durchgebrochen wären? Sie wären massakriert worden. Das politische Ziel der Militanten war bereits mit dem Freitag erreicht worden. Es war bewiesen worden, daß ein Gipfeltreffen der Mächtigen nur militärisch durchgesetzt und geschützt werden konnte, daß die GAPO-Bewegung eine starke militante Option hatte. Eine oppositionelle Bewegung hat nur dann eine Chance, politisches Gewicht zu bekommen, wenn die HERRschenden diese Option befürchten müssen. 500.000 FriedensdemonstrantInnen beeindrucken keinen Machtpolitiker oder Großbankier, solange gewiß ist, daß sie friedlich bleiben werden. Erst die Möglichkeit, daß sie sich ja auch radikalisieren könnten, macht die Bewegung gefährlich und damit stark.
Der Preis dafür, und das zeigte sich schon im Vorfeld, besonders aber am Samstag, ist die Spaltung innerhalb der Bewegung. Die gemäßigten Kräfte und die radikalen liegen zu weit auseinander, um ihre jeweiligen Aktionsformen einfach so nebeneinander auf der Straße durchführen zu können. Militante sind naiv, wenn sie behaupten, es genüge ja, sich gegenseitig zu akzeptieren. Unsere Militanz wirkt sich auf andere ganz konkret aus. Es stimmt zwar, daß die Polizei auch ohne Straßenkämpfe zu Übergriffen neigt, aber es stimmt auch, daß die Gewalt der Polizei – auch gegen Unbeteiligte – im Zuge von Straßenkämpfen erheblich zunimmt, daß sie brutale Rache nimmt, oft an Schaulustigen und Unerfahrenen (denn die Militanten wissen am besten, wann es Zeit ist, sich zurückzuziehen).
Am Samstag Abend schien es, als ob ein politisches Unentschieden anstünde. Die Militanz hatte der GAPO die Aufmerksamkeit verschafft, die sie brauchte. Anstatt daß ihre politischen Inhalte in der Öffentlichkeit von der „Gewaltberichterstattung“ überlagert worden wäre – wie die liberalen Linken es stets behaupten – war das Gegenteil der Fall. Die Militanz hatte die Berichterstattung über das Fest der HERRen der G8 verdrängt, und viele Medien beeilten sich, die „eigentlichen“ Anliegen der GAPO-Bewegung zu erläutern, die von den „Gewalttätern“ gerade diskreditiert würden. Andererseits waren die Gräben innerhalb der GAPO, schon in Göteborg deutlich, nun noch offener aufgebrochen, hatte es Schlägereien untereinander gegeben, waren tausende verletzt und zerschunden und ein Mensch tot. Der Preis für den augenblicklichen politischen Erfolg war hoch und würde erst in der Zukunft erkennbar werden. Der politische Druck von oben und von den Medien, der auf die gemäßigten Kräfte zum Zwecke der Spaltung ausgeübt wurde und noch werden würde, war enorm. Und viele schienen nur zu gerne bereit, ihm nachzugeben oder gar vorauseilend zu gehorchen.
Dann kam der nächtliche Überfall auf die Diaz-Schule und das Medienzentrum IMC.
Die Situation in Genua schwankte Samstag Abend für viele zwischen „es ist überstanden“ und „was wohl jetzt noch nachkommt“. Es war abzusehen, daß die Polizei weitere Angriffe auf Camps und Unterkünfte starten würde. Viele Militante wechselten das Quartier, aufgrund von Gerüchten über bevorstehende Razzien oder einfach aus Unsicherheit; es mußte immerhin davon ausgegangen werden, daß die Polizei im Laufe der Tage mitbekommen hatte, wo die Militanten zu suchen waren, und es hatte ja auch schon entsprechende Angriffe gegeben (etwa auf das Camp von griechischen Anarchisten, soweit ich weiß).
Manche, die an Auseinandersetzungen beteiligt waren, suchten den Schutz von Einrichtungen, die aufgrund ihrer Nähe etwa zum GSF als sicherer galten. Dazu gehörten auch die Diaz-Schule und das IMC. Die Polizei ist nicht allwissend, sie kriegt manches mit und manches nicht. Und sie hat ihre eigenen Verschwörungstheorien und wittert gerne geheime Bündnisse zwischen Militanten und Gemäßigten. Sie hatte sich bereits vor der nächtlichen Attacke stark auf die Deutschen als angebliche Haupt-Randalierer eingeschossen, und sie hat vermutlich mitbekommen, daß viele Deutsche in die Diaz-Schule überwechselten oder bereits dort waren. Es scheint daher sehr wohl möglich, daß sie anfangs wirklich der Meinung war, hier ein Zentrum der Militanten ausgemacht zu haben. Die unglaubliche Brutalität des Angriffs ist anders kaum zu erklären (schlugen sie den friedlichen Sack und meinten den ausschlagenden Esel?).
Es ist durchaus lebensnah (aber nicht so prickelnd verschwörerisch), zu vermuten, daß die Sondereinheiten ganz konkret Rache für die Vortage nehmen und die deutschen Militanten zusammenschlagen wollten, daß sie in ihrem (faschistoiden?) Haß und der über die Tage gewachsenen Anspannung unkontrollierbar wurden und die Deckung von oben dabei hatten: keine Sorge, das bügeln wir schon aus, die Medien haben wir im Griff, wer hört schon auf ein paar Schreihälse aus dem „Black Block“? Und dann trafen sie (überwiegend?) die ganz „falschen“… Die Möglichkeit, daß bewußt nicht auf die Militanten, sondern auf bekanntermaßen Friedfertige losgedroschen wurde, besteht nichtsdestotrotz. Dahinter müßte dann eine politische Strategie vermutet werden, die zum Ziel hat, die gemäßigte Linke durch Terror einzuschüchtern und zur Isolation der Militanten zu zwingen, nach dem Motto: trennt euch vom schwarzen Block, sonst schlagen wir euch tot. Ich halte aber die erste, banalere Erklärung für die wahrscheinlichere. Es sind meistens die banaleren Geschichten, die wahr sind.
Der Überfall auf die Schule und das IMC ging auch deswegen politisch nach hinten los für die Täter, weil es einige „unpassende“ ZeugInnen und Betroffene gab. Geprügelte JournalistInnen lassen in fast allen Medien die staatstreuen Zügel lockerer werden, eine Senatorin als Zeugin ist auch ungünstig. Die Erschießung von Carlo Giuliani war noch mit einem Schulterzucken durchgegangen, die Polizeigewalt vom Samstag auch noch, der Überfall auf die Schule war dann der Tropfen zu viel, der etliche Medien kippen ließ und das politische Patt vorerst zugunsten der GAPO drehte. Ich schreibe „vorerst“, weil ich mir durchaus nicht sicher bin, ob nicht langfristig die einschüchternde Wirkung des Terrors stärker sein wird als die mobilisierte Wut und Trotzreaktion. Werden nicht viele vor der nächsten anstehenden Großaktion sich fragen, ob sie sich das nach Genua noch einmal zumuten? Werden die gemäßigten Gruppen nicht letztlich wieder in ihre vertraute Spaltungsposition zurückkehren und, ausgesprochen oder nicht, die Militanten für den Terror der Polizei verantwortlich machen?
Die ersten Signale, etwa aus Richtung des GSF, klangen leider ganz danach. In jüngster Zeit gab es aber auch ermutigende Zeichen, etwa aus Richtung von ATTAC Deutschland. Eine Diskussion über die Möglichkeit gemeinsamer Aktionsformen ist nötig, und eine Einigung ist nicht zu erwarten. Aber vielleicht ist es wenigstens möglich, sich darüber zu verständigen, was in Genua geschehen ist und was als Gerücht, Einbildung, Erfindung oder Spekulation zurückgewiesen werden muß. Von einer solchen Basis aus kann dann versucht werden, zu diskutieren, wie weitere Aktionen in Zukunft aussehen könnten.
Ich möchte zusammenfassend mein Fazit aus den Tagen in Genua ziehen.
– Die Eskalation der Straßenkämpfe in Genua war spätestens nach Göteborg absehbar.- Es hat keinen „Black Block“ gegeben.
– Militante sollten den Begriff des „Black Block“ nicht akzeptieren, denn er kann – gerade in Italien – Assoziationen an unheimliche Gewalttäter und (faschistischen) Terror hervorrufen.
– Die Militanten waren schlecht bis gar nicht organisiert.
– Die Straßenkämpfe wurden von Militanten begonnen und maßgeblich geführt, nicht von Provokateuren.
– An den Straßenkämpfen beteiligten sich tausende, viele davon waren weder schwarz gekleidet noch vermummt, waren weder Militante noch Provokateure.
– Die Polizei ging brutal gegen alle vor, ob militant oder friedlich.
– Die Polizei hatte am Freitag ein teils defensives Konzept, weshalb viele militante Aktionen zeitweise unbehelligt blieben.
– Am Samstag schaltete die Polizei auf Offensive um und griff alle an, die ihr vor die Knüppel kamen – wiederum Militante ebenso wie Friedliche.
– Es gab vermummte Zivilpolizisten, vor allem als Schläger- und Greiftrupps.
– Es beteiligten sich auch einige getarnte Polizisten und Faschisten an den Krawallen; wenn sie dabei eine politische Strategie verfolgten, dann höchstwahrscheinlich die, durch asozialen Terror die Militanten in Mißkredit zu bringen.
– Es gab daneben aber auch Fehler von Militanten und unverantwortliche Aktionen.
– Der Überfall auf die Diaz-Schule war von oben gedeckt, wenn auch nicht von langer Hand geplant; er sollte vermutlich die deutschen Militanten treffen.
– die massive Brutalität der Polizei verfolgte das Ziel, die gemäßigten Teile der Bewegung einzuschüchtern und von den radikaleren Teilen zu spalten. Ob dieses Konzept erfolgreich war, wird sich erst in der Zukunft erweisen.
– Genua war ein politischer Erfolg für die gesamte GAPO-Bewegung, der teuer erkauft wurde und keine Gewißheit für den weiteren Verlauf bringt; ein Rückschritt ist ebenso wahrscheinlich wie eine verstärkte Mobilisierung.
– Genua wird sich in dieser Form nicht so bald wiederholen. Das Jahr 2001 war möglicherweise das letzte Jahr, in dem die Weltstrategen Ort und Form ihrer Gipfel kaum unter Rücksichtnahme auf mögliche Proteste planten. Gipfeltreffen in den Rocky Mountains, in Saudi-Arabien oder auf Flugzeugträgern werden anders verlaufen.
Zentral steht für mich eine Erkenntnis: Genua hat eine Grenze der Mobilisierung und politischen Aktionsfähigkeit aufgezeigt. So viele Menschen, aus so unterschiedlicher (politischer) Heimat, mit verschiedenstem Organisierungsgrad und verschiedensten Aktionsformen, werden zu einem unkontrollierbaren Pulverfaß. Alles, Gutes wie Schlechtes, wird immens vestärkt und intensiver erlebt. Niemand kann mehr den gesamten Verlauf der Ereignisse überblicken, geschweige denn kontrollieren: kein GSF-Funktionär, kein Tuta Biancha, kein Militanter, kein Provokateur, kein Polizeiführer.
Militante Straßenkämpfe einer wachsenden Bewegung sind schon früher – auch in Italien – an eine Grenze gestoßen, die zu überschreiten den Weg in die militärische Auseinandersetzung bedeutet. Die Folge ist, unter den heutigen Bedingungen ebenso wie etwa 1977 in Italien (bewaffnete Demos der Autonomia-Bewegung), daß die Eskalation zurückgenommen werden muß oder die Bewegung zerschlagen wird. Denn die Machtfrage stellt und beantwortet derzeit in Europa der Staatsapparat und nicht die revolutionäre Bewegung. Die Eskalation von Seiten der Polizei, die bereits in Seattle begann, verfolgt genau dieses Ziel: uns einen immer härteren Kampf aufzuzwingen, dem wir auch strukturell nicht gewachsen sind. Denn, wie erwähnt, es gibt nicht nur keinen organisierten „Black Block“ (was sogar die italienische Justiz inzwischen zuzugeben scheint), es gibt überhaupt keine Struktur der Militanten, die einer ernsthaften staatlichen Repression auch nur ansatzweise standhalten könnte.
Daher müsste für alle Militanten eine Einschätzung der Kräfteverhältnisse stets am Anfang ihrer Aktionen stehen, und der mögliche Verzicht auf Eskalation müsste bewußter Teil der Strategien sein. Das ist aber nur sehr selten der Fall, denn – wie oben schon angedeutet – „die“ Militanten sind ein strategienloses Sammelsurium, in dem völlig unterschiedliche Motivationen zusammenkommen. Wer jung und wütend ist, sich sehr stark und wichtig fühlt, halb noch gegen die Eltern, halb schon gegen das Gesellschaftssystem rebelliert, wird sich kaum mit strategischen Überlegungen aufhalten. Das Ergebnis ist, bedauerlicherweise, daß nicht etwa die militante Bewegung bewußt Strategie und Taktik entwickelt, sondern daß zur militanten Bewegung immer genau die Menschen gehören, die die momentane Praxis gut finden. Wer seine Meinung ändert, verläßt meist die Bewegung, anstatt sie zu verändern.
Daher ist es fast unmöglich, mit anderen Kräften der GAPO-Bewegung verbindliche Absprachen über ein zukünftiges Nebeneinander der Aktionsformen zu treffen. Niemand kann den militanten Flügel wirklich repräsentieren.
Wir als Militante können nicht auf das Umfeld der vielen tausend verzichten, die unsere Aktionsformen zumindest tolerieren; die GAPO-Bewegung allgemein kann nicht auf ihre militante, umstürzlerische Option verzichten, will sie nicht in der sozialdemokratischen Umarmung ersticken. Künftige Mobilisierungen der GAPO kommen nicht darumherum, sich sowohl auf mögliche (nicht: zwangsläufige!) militante Aktionen wie auch auf brutale Polizei einzustellen.
Es ist klar, daß es unter diesen Voraussetzungen schwer ist, gemeinsame Aktionen durchzuführen mit denen, die an Reformkonzepte noch glauben und auf Einfluß, gar Beteiligung an der Regierung (oder gar der Macht?) hoffen. Für sie sind wir eine zukünftige Bedrohung, und sie für uns. Dieses Mißtrauen zieht sich mehr oder weniger unterschwellig stets durch die Gewalt-Debatte. Welche Politik wird durch Gewalt diskreditiert? Wenn es die Politik ist, die auf Teilhabe an der heutigen Macht zielt, ist sie in unseren Augen bereits selbst diskreditiert. Diese Sichtweise führt viele Militante in die Sackgasse, die gemäßigte Linke an sich für verloren an den Reformismus zu halten, besonders die Organisationen. Sie verlieren den Respekt vor den Beteiligten und sehen sie geringschätzig als die nützlichen Idioten der Sozialdemokratie an, so wie andersherum manche uns als nützliche Idioten der Polizei betrachten.
Die GAPO-Bewegung kann nur stärker werden (bzw. überleben), wenn sie dieses Spannungsverhältnis aushält. Sonst wird sie sich zwangsläufig aufspalten in einen radikalen Teil, der isoliert, unterdrückt, zerschlagen wird und einen reformistischen Teil, der mit den üblichen Lippenbekenntnissen, Bestechungen und Lügen abgespeist wird. Aushalten läßt sich das Spannungsverhältnis nur, wenn es für alle Fraktionen die Möglichkeit gibt, ihre Aktionsformen durchzuführen. Das bedeutet aber auch, daß es für Gewaltfreie möglich sein muß, so zu demonstrieren, wie sie es wollen, ohne daß unsere Militanz und der darauf folgende Polizeieinsatz sie daran hindert. Militante Aktionen, soweit sie organisiert sind, müssen darauf achten, nicht andere Leute schwerwiegend in Mitleidenschaft zu ziehen. Wenn die Polizei von sich aus angreift, so soll sie das nicht uns in die Schuhe schieben können.
Andererseits sollten wir von den Gewaltfreien erwarten können, daß sie einen differenzierten Blick entwickeln und nicht über jedes Distanzierungsstöckchen springen, das ihnen hingehalten wird von Medien und Staatspolitik. Wenn die Polizei sagt, sie müsse die DemonstrantInnen leider verprügeln, weil sie sich nicht distanzieren von denen, die ganz woanders Krawall machen, erwarte ich von den Gewaltfreien den Mut, zu sagen: Nein, warum soll ich mich distanzieren, ich habe das nicht zu verantworten!
Die Gewaltfrage innerhalb der GAPO-Bewegung ist nicht „lösbar“. Um zu überleben, muß sie Formen des akzeptierenden Nebeneinander entwickeln, die sich gegenseitig nicht ausschließen.
Wir als Militante können dazu beitragen, indem wir für die anderen Gruppen und Strömungen innerhalb der GAPO erkennbarer, ansprechbar und einschätzbar werden; indem wir Absprachen eingehen und auf deren gegenseitige Einhaltung achten; indem wir nicht jede Möglichkeit militanten Agierens nutzen, sondern uns taktischer verhalten.
Tja, es gäbe noch viel zu schreiben… aber vorerst lass ich es mal bei diesem Text.
Kurz zu mir: Seit zwanzig Jahren in der Berliner radikalen Linken aktiv, sozialrevolutionär, autonom, subversive Kommunikations-Guerilla. Checkt meine älteren Texte, z.B. in der „Interim“.
(*) Ich halte nichts von dem Begriff „Globalisierungsgegner“. Er wird unserem Anliegen nicht gerecht. Ich spreche daher von der Globalen Außerparlamentarischen Opposition (GAPO)
Veröffentlicht bei Indymedia am 13. August 2001