Das Mediale Prinzip Hoffnung

Sven Glückspilz lebt noch und hat auch mal wieder was zu sagen zum Thema Medien. Dabei geht es um mehr als die Frage „wie sieht eine gute linksradikale Zeitung aus“: Es geht um Kommunikation, um Perspektiven revolutionärer Vermittlung (was mehr beinhaltet als „Propaganda“), um soziale Geflechte und auch um Geschlechterverhältnisse. Also mal wieder fast um alles.
Vieles ist bestimmt schon oft und besser gesagt worden, von Adorno vor fast dreißig Jahren und von XY letzte Woche in der Interim.

BEGRIFFE
Neue Technologien: Ein Begriff, der eng verbunden ist mit der geschichtlichen Zeit, von der die Rede ist. In der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts würde ich unter den „neuen Technologien“ im weitesten Sinne all jene Technologien (Methoden, Strukturen, Maschinen, Funktionsweisen) verstehen, die digital[1] geformt sind. Das beinhaltet moderne Physik (speziell Atomphysik), Gentechnik, (Digital-)Elektronik, Informatik. Ihnen gemeinsam ist, wesentlich aufzubauen auf mathematisch gestützter Zerlegung eines Ganzen in kleinste Bausteine – nicht nur theoretisch wie im klassischen Griechenland, sondern ganz materiell.

Wenn ich im folgenden von „neuen Technologien“ schreibe, beziehe ich mich aber im speziellen auf diejenigen, die im direkten Zusammenhang mit den „neuen Medien“ stehen, also auf die Methoden, Strukturen, Maschinen und Funktionsweisen v.a. der digitalen Elektronik. Dazu zählen z.B. die diversen Datenübertragungswege (Glasfasernetze, Breitband-Kupferkabel, Digitale Funkübertragung…); Computertechnik (Mikroprozessoren, elektromagnetische Speicher etc.); digitale Bildverarbeitung (CCD-Technik, Scannen…); Software; Durchsetzung des sozialen Alltags mit Computertechnik (Geldautomaten, Chip-Karten…)…
Neue Medien: Neue Medien im zuendegehenden 20.Jahrhundert sind die Kommunikationsformen, die auf (digitale) Mikroelektronik und meistens – nicht immer – auf leistungsfähige Datenübertragungsnetze aufbauen, also diejenigen Medien, die durch die „Neuen Technologien“ erst machbar wurden.

KOMMUNIZIERENDE MENSCHEN – KOMMUNIZIERENDE RÖHREN
„Medien“ und „Kommunikation“ sind die Zauberworte des späten zwanzigsten Jahrhunderts. Die Magiere und Ärzte der Gesellschaft haben sich abgewandt von schwerindustriellen Eingeweiden und dienstleistenden Blutbahnen und sich stattdessen dem Nervensystem zugewandt. Aber ist die Kommunikation, die sie meinen, auch dieselbe, die wir meinen?
Der Duden definiert sie als „Mitteilung; Verbindung; Verkehr“. Das genügt mir nicht.

Kommunikation zwischen Menschen beinhaltet eine Wechselwirkung, die über den reinen Datengehalt der Nachricht hinausgeht. Je mehr die Kommunikation durch technische Filter läuft, anstatt unmittelbar stattzufinden, desto mehr verliert sie ihre soziale Funktion. Die eher hilflosen Versuche, beim Internet-Chat (Gespräche per Computer zu Computer übers Internet) Emotionen durch Zusatzzeichen zu symbolisieren, macht beispielhaft deutlich, daß Reden erstens mehr ist als Austausch von Worten und daß dies sich zweitens nicht aus der Welt schaffen läßt, indem symbolische Krücken eingeführt werden. Die ursprüngliche produktive Kraft der Kommunikation liegt im sozialen (zwischenmenschlichen) Bereich; der Datentransfer verlagert diese Kraft in andere Bereiche. Die Kommunikation wird nach und nach zu einem Zerrbild, einer Simulation, und entfremdet die Menschen einander, anstatt sie sich näher zu bringen.

Weiter ist es für zwischenmenschliche Kommunikation wesentlich, daß ihre Formen und Bedingungen zwischen den Beteiligten verhandelbar sind. Je stärker die Kommunikation normiert und standardisiert ist (nicht nur technisch), desto stärker fällt sie unter den Waren- und Nutzwertcharakter des heutigen Gesellschaftssystems. Sie wird zur Funktion der Ausbeutung und Herrschaft.

Ich folgere daraus, daß die vielgepriesene Kommunikation der Gegenwart und Zukunft bedeutet, daß Medien als Instrumente der Simulation, Entfremdung und Ausbeutung eingesetzt werden.[2] Insbesondere die „Neuen Medien“ sind Teil der Deregulierung und Automatisierung der Gesellschaft.

WIE „NEUE TECHNOLOGIEN“ SICH DURCHSETZEN

Reden wir von „Neuen Technologien“, die seit Ewigkeiten immer wieder über die Menschen hereinbrechen (hereingebrochen werden). Historisch betrachtet unterscheiden sich die von mir damit gemeinten Technolgien von denjenigen Technologien, die an der Basis, aus der täglichen Notwendigkeit heraus, erfunden werden. Da sie keiner unmittelbaren Notwendigkeit für das tägliche (Über-)Leben entspringen, sind sie von Anfang an eng gekoppelt an die Mechanismen der Herrschaft, z.B. die Mehrwertproduktion.

Die Durchsetzung solcher Neuen Technologien folgt meistens einem einfachen Schema:
In der ersten Etappe werden, häufig militärisch begründet, Grundlagen erforscht und Ideen entwickelt.

In der zweiten Etappe wird ein verkaufsfähiges, gewinnträchtiges Produkt geschaffen. Aufgrund von Preis, Qualifikationsanforderung oder Zugangsbeschränkungen steht es nur einer gewissen gesellschaftlichen Schicht zur Verfügung. Dadurch wird ihm ein hohes Sozialprestige zugewiesen – wer das Produkt hat, ist selbst was wert.

In der dritten Etappe wird das Produkt in die Liste der „gesellschaftlich notwendigen“ Produkte/Methoden aufgenommen, da es von denen, die die Normen setzen, akzeptiert wurde. Die Nachfrage wächst.

In der vierten Etappe erfolgt der Einstieg in die Massenproduktion, da das Produkt nunmehr anerkanntermaßen „notwendig“ ist. Zunehmend orientieren sich andere Produkte/Methoden an dem Neuen.

Fünfte Etappe: Die Freiwilligkeit, sich für das Produkt zu entscheiden, wird abgelöst von der Freiwilligkeit, sich dagegen zu entscheiden.

In der sechsten und letzten Etappe werden alternative Produkte vom Markt genommen, verdrängt oder staatlich abgeschafft.
Die verschiedenen Produkte der „Neuen Technologien“ unserer Zeit befinden sich in verschiedenen Etappen. Einige sind jedoch bereits bis an die sechste Etappe vorgedrungen (Digitalisierung elektronischer Geräte, Büro-EDV).

WERBUNG BILDET!

Die „Neuen Technologien“ profitieren stark davon, daß sie ihren eigenen Werbeträger produzieren – Neue Medien machen Werbung für neue Technologien in den alten und neuen Medien.
Werbung ist das politische Bildungsprogramm der Neuen Medien. Sie wird vom reinen Mittel der Verkaufsförderung zum sinnbehafteten Bestandteil der Kommunikation. Die widersprüchliche Aufnahme durch die Menschen („Werbung lügt doch eh“, aber sie funktioniert dennoch und wird konsumiert, genauso wie die „Bild“-Zeitung) wird gelöst, indem Werbung gar nicht mehr bewußt als solche wahrgenommen werden soll, sondern in die große Familie der „Kommunikation“ aufgenommen wird. Werbung ist das Idealbild simulierter Kommunikation, denn sie tut nicht einmal so, als sei sie authentisch – alles ist Maske und Simulation, und alle wissen es.

MASKIERUNG UND SIMULATION

Maskierung und Simulation sind Schlüsselbegriffe der Neuen Technologien. Tatsächliche Vorgänge werden ebenso maskiert wie simulierte Vorgänge, bis alles ununterscheidbar wird. Das wird gefördert durch die gesellschaftliche Segmentierung und Informationsüberflutung, die die Urteilsfähigkeit der Menschen untergräbt. Praktisch drückt sich das beispielsweise so aus:

* In der Architektur: Es gibt keinen eigentlichen künstlerischen Stil, es werden stattdessen bekannte Stile kopiert (Simulation). Fassaden werden vor Baukörper gehängt, Leitungen werden versteckt, Glas, Spiegel und Licht verbergen grauen Beton (Maskierung). Gebäude repräsentieren Ideologien. Die neue Berliner Mitte zeigt Macht (klare, gerade Linien, Blöcke, Flächen) und maskiert sie zugleich mit „Kommunikation“ („Plazas“, Kulturobjekte, „Flaniermeilen“…). Die gesellschaftliche Segmentierung zeigt sich in der Mode, öffentliche Räume ins Innere von Bauwerken zu verlegen bzw. mit einem „außen“ zu umgeben, was sie kontrollierbarer macht.

* Im sozialen Bereich: Wo Menschen voneinander isoliert werden, entstehen mediale Maskierungen und Simulationen. Maskiert wird die um sich greifende Einsamkeit durch positiv besetzte Begriffe von „Flexibilität“, „Persönlichkeitsentfaltung“, „Freiheit“ etc.; die Gemeinschaft wird simuliert in pompösen Großveranstaltungen, Fernsehshows, Single- bzw. Vermittlungsparties und -shows.

* Medien: Sie müssen die Maskierungen und Simulationen zum Alltag werden lassen, zur Norm machen, indem sie sich ständig damit beschäftigen. Selbst die Kritik an der Entwicklung wird simuliert in herummäkelnden „politischen Magazinen“ – mit einer Tendenz zur Maske in Form von reaktionären Magazinen wie „Focus“, die unter dem Mantel des kritisch-politischen Stils die neuen Normen propagieren. Wesentlich für die Durchsetzung simulierter Kommunikation ist die Telekommunikation. Es wird unüberprüfbar, wer mit wem redet, wie hoch der Sinn- und Wahrheitsgehalt des Ausgetauschten ist. Auf die Dauer ist das auch ganz unwichtig: Wichtig ist dann der Zustand des Redens, nicht der Sinn des Gesagten. Das erstere simuliert das Letztere. In einem Film von Monty Python (englische Satiriker und Kabarettisten) geht ein Ehepaar in ein Gesprächs-Restaurant, dessen „Speisekarte“ verschiedene philosophische Themen anbietet. Sie wählen ein Thema aus, haben aber nichts dazu zu sagen. Selbst als der Kellner ihnen Stichwörter reicht, versagt das Gespräch kläglich. Der Unterschied zum Modell der simulierten Kommunikation ist, daß es den beiden auffällt. Wer sich heute manche Talkshows im Fernsehen reinzieht, stellt fest, daß den Beteiligten darin rein gar nichts auffällt.

BEVOR DIE DÄMME BRECHEN

Es gibt drei bedeutsame Hürden, die den ganz großen Durchbruch der Neuen Medien bisher behindern:
Das technische Potential hinkt zurück, es ist teilweise gerade erst von der dritten Etappe (gesellschaftliche Notwendigkeit) zur vierten Etappe (Massenproduktion) übergegangen; es gibt zum Beispiel Engpässe im Bereich der Transportkapazitäten (Kabel, Satelliten etc.).

Die Massen-Nachfrage ist noch nicht ausreichend (investitionssicher) in die vierte Etappe übergewechselt.
Und drittens gibt es noch keine am Markt durchgesetzte Norm für den Wert der Ware „Information“ bzw. „Daten“.
In den nächsten 10-15 Jahren werden die Hürden soweit überwunden sein, daß von einem großen Durchbruch zu sprechen sein wird.

UMSTRUKTURIERUNG UND KLASSE

Die Umstrukturierung der Gesellschaft wird, wie bei vergleichbaren Umbrüchen früher, neue Klassenstrukturen schaffen. Die Neuen Technologien werden schließlich nicht der Gesellschaft hinzugefügt, sondern werden ein wesentlicher Teil ihres Fundaments sein.

Die Entstehung subjektiven Klassenbewußtseins und rebellischen Potentials wird schwieriger aufgrund der informellen Zersplitterung, der Ent-Kollektivierung der Erfahrungen und des Zugriffs der Simulation und Maskierung auf unser Denken. Nichtsdestotrotz wird es soziale Klassen geben. Das neue „Proletariat“ in den Metropolen sind die weitgehend entgarantierten Beschäftigten im Dienstleistungsbereich und im Bereich der Hilfsarbeiten in der automatisierten Produktion. An die einstige Stelle der Loyalität durch Identifizierung mit dem Betrieb (was kollektive Prozesse erleichterte) soll der Wunsch treten, von den anderen Arbeitenden möglichst weit weg zu sein. Sabotage wird erschwert dadurch, daß das Wissen über die Funktionsweise des Produktionsprozesses den beteiligten Menschen weitgehend entzogen wird. Eine neue Schicht der FacharbeiterInnen, traditionell ja das Rückrat von Klassenorganisation, sind die akademisch gebildeten Menschen an den Steuergeräten und Tastaturen – gespalten durch Spezialisierungen, Individualismus und geistige Entfremdung.

Und schon naht die nächste Umstrukturierung – das Entwicklungstempo steigt. Der „Quartärsektor“ rückt dann ins Blickfeld der Ökonomen, also ein ganz von der ursprünglichen Handarbeit an Dingen entfremdeter Bereich: die Informations- und Datenverarbeitung und -produktion.[3] Daß das Gesellschaftssystem diese Kluft zwischen abgedrehter Wachstums-/Fortschrittsspirale und realer Situation aushält, scheint von heute aus betrachtet unwahrscheinlich. Aber auch Pferde wurden schon beim Kotzen digital gescannt. Wer einmal den Roman von S.Lem „Der futurologische Kongreß“ gelesen hat, hält alles für möglich.

MÄNNERPHANTASIEN

Der Blick auf die Neuen Medien bzw. Technologien zeigt sie als durchaus typisches Produkt männlicher Vorstellungen. Die Neuen Medien orientieren sich eindeutig am „freien“ Mann, der viel Zeit und Lust hat, sich mit Technik zu beschäftigen, Außerirdische Bedrohungen mit Laserkanonen abzuwehren, ebenso wichtige wie folgenlose Debatten am Bildschirm zu führen, sich über die neusten Entwicklungen auf dem Überraschungs-Ei-Tauschmarkt zu informieren sowie unkontrollierten Zugang zu Pornografie zu bekommen – kurz, sich der Verantwortung für wichtige soziale Prozesse möglichst erfolgreich zu entziehen.
Zudem ist ein wesentlicher Vorreiter der Durchsetzung dieser Technologien die Naturwissenschaft, insbesondere der Universitätsbetrieb. Daß auch dies ein ausgesprochen männliches System ist, kann hier aus Platzgründen nicht ausgeführt werden. Muß es wohl auch nicht, oder?

In der von Männern kontrollierten Gesellschaft wird viel Wert gelegt auf Abstraktion, Entfremdung; der Mann liebt den Glanz und den Schein des Starken, siegreichen; der Computer ist (wie P.M. schon schrieb[4]) der Triumph des Mannes über den Gebärneid, die endlich geglückte Kopfgeburt, die denkende Maschine; männliche Kommunikation hatte schon vorher oft viel zu tun mit Sieg und Niederlage, Herrschaft oder Unterwerfung, Eins oder Null. Kein Wunder, daß zwei Speicher-Festplatten in ein und demselben Computergehäuse „Master“ und „Slave“ genannt werden…

Die Verlagerung der patriarchalen Herrschaftsprozesse von Männern auf ihre Maschinen, ihre Technik, ihre Normen, verschleiert zudem die Machtverhältnisse und macht sie schwerer angreifbar (Das gilt für andere Herrschaftsprozesse im übrigen ebenso, Beispiele sind das Welthandelssystem ebenso wie die Flüchtlingspolitik…).

Ich würde selbst den Fortschrittsglauben an sich als männliches Denkmuster ansehen. Auch die alten antikapitalistischen Modelle sind durchzogen von diesem Mythos des Fortschreitens (immer schön voranschreiten, links, rechts, humba-humba-täterä). An die Stelle des „Überholen ohne einzuholen“ müßte stattdessen eigentlich das „Anhalten um voranzukommen“ treten. Wer glaubt, die Neuen Medien seien eine Chance oder ein notwendiger Schritt auch für revolutionäre Strategien, marschiert in dieselbe Sackgasse wie die alten sozialistischen und kommunistischen Strategen. Das läßt sich auch alles wunderschön simulieren, der Computer erledigt es in 20 Millisekunden.

HISTORISCHER VERGLEICH

Eine längere Abschweifung
Um Zustimmung wie auch Widerspruch zu diesen Thesen zu erleichtern, hilft ein Blick in die Vergangenheit. Wie war das, als die letzten großen Technologiesprünge im Medienbereich stattfanden? Ich denke da an die Einführung der Schrift, der Mathematik und zuletzt der Drucktechnik (alles, nebenbei, keine europäischen, nicht einmal weiße Erfindungen). Alle drei Erfindungen haben unsere Gesellschaft längst so tief durchdrungen, daß sie gar nicht mehr wegzudenken sind aus unserem Leben. Wir würden sie auch gar nicht weghaben wollen (nein, auch Mathematik nicht, bei genauerem Nachdenken!). Aber so oder so sind diese Technologien, irgendwann, hier und dort, eingeführt worden in die Gesellschaft, und es muß interessant sein, sich anzusehen, wie diese Prozesse aussahen und wie sich das „Vorher“ vom „Nachher“ unterschied. Dabei sollte nicht aus dem Blick geraten, daß unser Bild von der Vergangenheit äußerst wacklig ist; die scheinbar so feststehende Historie ändert sich in den letzten Jahren ja schneller als die Geschichtsbücher gefälscht werden können. Mein weiterführender Lesetip dazu: „Das Technopol“ von Neil Postman.

Überlegen wir doch einmal, was die Buchdruckerei im Europa des 15.Jahrhunderts bedeutete.
Zuerst einmal war sie natürlich ein wirtschaftlicher Faktor – die Nachfrage nach Schriftwerken stieg, die hungrigen Frühkapitalisten standen in Konkurrenz zum trägen Wirtschaftsgiganten Kirche, der die Buchproduktion und damit das Wissen weitgehend kontrollierte. Bücher waren Ware, aber Bücher waren auch Mittel, um Normen und Standards durchzusetzen, und Bücher waren technische Mittel für die Abwicklung des Warenverkehrs. Die Buchdruckerei war so gesehen genauso wie die spätere Einführung der Webmaschine in England eine notwendige technische Voraussetzung für die Entstehung des modernen Kapitalismus. Sie rationalisierte die Datenverarbeitung und nützte so administrativen und wirtschaftlichen Apparaten.

Vor der Druckkunst war das Buch in der zweiten Etappe der oben beschriebenen Durchsetzung Neuer Technologien anzusiedeln gewesen – ein Produkt für Eliten. Nun folgte der Übergang in die dritte Etappe, die Etablierung als gesellschaftlich notwendig. Es dauerte noch lange, bis die vierte Etappe, die Massenproduktion, erreicht war. Die fünfte Etappe, der Wechsel der Freiwilligkeit, würde ich mit dem Beginn der flächendeckenden Alphabetisierung und Gründung des modernen Schulsystems umschreiben.

Eine Auswirkung der Druckkunst war, daß eine starke Konkurrenz zur mündlichen Überlieferung entstand, nach einiger Zeit auch in Form der Zeitung. Die unmittelbare Kommunikation mußte darunter leiden, ihr Warencharakter nahm zu. Der Zugang zu den gesellschaftlich als wichtig angesehenen Informationen wurde für die Armen erschwert (erst mal lesen lernen!), für diejenigen, die es bezahlen konnten, erleichtert. Auch das Verbreiten von Falschinformationen ging nun effektiver. Die Lehre konnte besser kontrolliert werden durch Normen, Lehrbücher, Schulpläne. Im Interesse des aufstrebenden Bürgertums war sicher auch die wachsende Rechtssicherheit, indem ihm der Zugang zu Gesetzen und Verordnungen tendenziell erleichtert wurde. In den traditionellen Bereichen wie Schreibstuben und Kloster-Kopierdiensten nahm die Arbeitslosigkeit zu, dafür entstanden neue Berufe in Handwerk (Papierpoduktion, Druck, Binden…) und Datenverarbeitung.

Selbstverständlich wurde es nun auch leichter, rebellische Informationen vielfältig zu verbreiten. Informationen wurden haltbarer und, zumindest theoretisch, zuverlässiger, weil ihr Wortlaut überprüfbar war. Es entwickelte sich eine Form der Objektivität, die vorher nur den Eliten zugänglich gewesen war: Das gesprochene Wort konnte nicht nachgeprüft werden, das geschriebene schon.

Komisch, das meiste hiervon klingt 1996 sehr vertraut…

Wer war damals für, wer gegen Druckkunst? Der Widerstand der Kirche (von wegen „schwarze Kunst“) war der des unterlegenen Konkurrenten, der von dem neuen Produkt überrollt wird und deswegen dagegen wettert. Ähnliche, weniger heftige Attacken gibt es auch heute, wenn die „alten Zünfte“ sich beklagen über niedriges Niveau, Unklarheiten beim Copyright und so weiter.
Lassen wir einmal Stimmen von damals erklingen.

Rebellische Menschen sagten vielleicht: Was nützen uns Bücher? Wir brauchen Brot! Wir wissen, wie ein Feld bestellt und ein Schuh genäht wird, wozu also Bücher?
Heute sind Druckwerke dagegen wesentlicher Bestandteil der Sozialisation. In der normalen Berufsausbildung macht die Berufsschule rund ein Fünftel der Ausbildung aus, an der Universität – na, das wißt ihr wohl selbst, werte Lesende. Auch die Unterdrückten in den Metropolen sehen heute auf diejenigen herab, die nicht lesen und schreiben können (oder wollen). Besonders viel Sozialprestige bringt Fachliteratur (entsprechend teuer ist sie auch) bzw. der Zugang zu viel Spezialwissen. Aber auch Comics wollen gelesen sein…

Bodenständige Geister mögen gesagt haben: Bücher sind vom Teufel. Auch Pfaffe und Gutsherr halten nichts vom Lesen – außer der Bibel. Was sollen wir dann davon haben?
Pfaffe und Gutsherr haben inzwischen ihre Meinung geändert, denn sie wollten nicht untergehen im Strudel der Modernisierung. Sie gehören aber immer noch zu den „besonnene“ Kräften, die verhindern wollen, daß zu heftig modernisiert wird und so eine gesellschaftliche Unordnung entsteht, die revolutionäre Kräfte wachsen läßt.

Die moderne RevolutionärIn sagte vielleicht: Prima, wir müssen sofort Druckerpressen beschaffen und Flugblätter verbreiten.
Und heute? Nun, sie haben es getan. Ob die Revolution 1524/25 mit (mehr) Flugblättern oder die Revolution 1918 mit weniger Flugblättern anders ausgegangen wären? Wer weiß. Jedenfalls haben Druckwerke in den letzten 150 Jahren großen Einfluß innerhalb der revolutionären Debatte gewonnen.
Sie könnte aber auch gesagt haben: Diese neue Technik hilft nur den Fuggern und Welsern bei der Buchhaltung, und dem König bei der Durchsetzung neuer Gesetze. Wir sollten die Druckerpressen zerstören.
Wir wissen, daß das – ob es versucht wurde oder nicht – nicht geklappt hat. Hilfreich für die Herrschaft war die Drucktechnik gewiß.

Die KulturpessimistInnen könnten ungefähr gesagt haben: Die Lage der Unterdrückten wird sich nicht ändern. Sie werden erst dann aktiven Zugang zu dieser Neuen Technologie erhalten, wenn sie bereits veraltet ist und es wieder eine neue Neue Technologie gibt.

Wirklich gibt es auch heute noch keinen allgemeinen Zugang zu Druckwerken; die Grenze verläuft vor allem zwischen Metropolen und Trikont. In den Metropolen wird recht fleißig konsumiert, doch „aktiven Zugang“ gibt es für die meisten Menschen fast nur in Form von LeserInnenbriefen in Zeitungen… und es gibt die rebellische „Gegenöffentlichkeit“, meist getragen von gebildeten Sprößlingen des Mittelstandes.

Die PessimistInnen fuhren dann fort: Bald werden alle in Büchern lesen und nicht mehr den alten Geschichten lauschen. Wie willst du Lüge und Wahrheit trennen, wenn du den Erzählenden nicht ins Auge schauen kannst?
Und 1996 gibt es immer noch keine Methode, einem gedruckten Wort die Lüge anzusehen. Es hat sich ein aufwendiges System der Quellenbewertung und Glaubwürdigkeitsanalyse entwickelt, emotional, politisch, wissenschaftlich. Das kostet viele Menschen viel Zeit. Und dennoch werden Lügen in Massen verbreitet und geglaubt.

Übrigens ist die gesprochene Geschichte zurückgekehrt als Radio, Film, Fernsehen, Tonträger. Aber sie hat unterwegs ihre persönliche Zugänglichkeit verloren, ist „gedruckte Stimme“ geworden. Sie wurde zum trojanischen Pferd der Drucktechnik, da sie – wie früher – direkt über die Sinne ins Gefühlsleben eindringt, obwohl sie den Gesetzen der Drucktechnik unterliegt.
Und was sagten die Intellektuellen? Vielleicht: Erst die Drucktechnik ermöglicht es, neue Gesellschaftsentwürfe breit zu diskutieren. Nicht umsonst war ein Kristallisationspunkt der Revolution 1524/25 (und der Reformation) die Übertragung der Bibel ins Deutsche, somit allgemeinverständliche, sowie ihre Auslegung.
Heute… gibt es viele Gegenentwürfe. Vielleicht zu viele?

ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT

Mag sein, der historische Vergleich klingt deshalb so passend, weil der Verdacht, alles sei damals genauso wie heute gewesen, zuerst da war und meine Gedanken entsprechend formte. Mich hat das Durchspielen des Vergleiches erschreckt, weil es in seiner Konsequenz bedeuten kann: Wer gegen die Neuen Technologien heute ist, muß eigentlich auch gegen die Druckkunst sein, warum nicht auch gegen Mathematik und Schrift… aber wer möchte das wirklich? Bestimmt werden die meisten zustimmen, wenn gesagt wird, daß Technologie nie wertfrei oder neutral ist. Aber von dort bis zur Konsequenz ihrer Ablehnung ist es oft ein großer Schritt. Ich will doch auch während oder gar nach der Revolution Bücher lesen! Wie kann ich mir da erlauben, gegen die Neuen Technologien zu rebellieren?

Trennen wir das mal, in die utopische Vorstellung einer befreiten Gesellschaft einerseits, die selbst entscheiden muß, welche Technologien sie erhaltenswert findet, und in die Gegenwart andererseits, über die sich zwei Dinge sicher sagen lassen: Die Neuen Technologien werden sich durchsetzen, und sie werden dies zum Nutzen des herrschenden Systems tun. Niemand wird sich ihnen in den Metropolen entziehen können.

Doch es wächst die Gefahr, gerade für revolutionäre Politik, in die Medienfalle zu tappen. Wir merken das in den letzten Jahren sehr deutlich. Die Fixierung Linksradikaler auf die Medien (Kaninchen vs. Schlange) ist stark und vielgestaltig – wir begegnen ihr bei denen, die sich vor allem Sorgen darum machen, wie sich „Inhalte richtig in den Medien unterbringen“, sprich „vermitteln“ lassen, wie auch bei denen, die das ganz verkehrt finden und meinen, es müßte mehr „von unten her“ passieren, wobei die Medien durch die Hintertür wieder hereinkommen, wenn diese Aktivitäten „von unten her“ so aussehen (z.B. linksradikale Straßenkämpfe), daß sie auch erst in ihrer medialen Verarbeitung wirklich politisch wirksam werden.

Neue Medien müssen gleichzeitig bekämpft und benutzt werden. Wer in der Defensive ist, kommt nicht drumherum, sich den Waffen und Regeln des Gegners stellenweise anzupassen. Es soll aber ein taktisches Verhältnis sein. Und, was ungleich schwerer sein dürfte: Neben ihnen müssen eigene Kommunikationsstrukturen geschaffen oder wiederbelebt werden. Die soziale Wiederaneignung der Kommunikation ist heute die erste Herausforderung revolutionärer Politik, lange bevor irgendeine Machtfrage gestellt werden kann.

THE FORTUNE-TELLER LOOKED IN THE CHRYSTAL AND SAW NOTHING AT ALL

Wenn heute von Neuen Medien die Rede ist, wird vom Internet gesprochen. Viele Linke machen sich große Hoffnungen, und einige arbeiten seit Jahren im Netz, vor allem in USA, Kanada, Niederlande und Italien. Es wird langsam Zeit, sich von ein paar Illusionen zu verabschieden.

Das, was sich heute als Internet präsentiert, ist in einer Phase der Gründerzeit. Der Durchsetzungsprozeß der Neuen Medien im Rahmen der heutigen Warengesellschaft kann auf die Dauer das Chaos im Internet nicht dulden. Und tatsächlich ist Kontrolle nur eine Frage von internationalen Normen und technischen Kapazitäten. Wenn die bereitgestellt sind – und sie werden bereitgestellt -, ist es vorbei mit der anarchischen Herrlichkeit.

Es wird wohl auch in Zukunft rebellische Nischen im Internet geben, so wie es rebellische Zeitungen, Videos etc. gibt. Der Zugang zu ihnen wird genauso schwierig sein, wird nur Insidern möglich sein, die die entsprechenden Fachkenntnisse und Zugänge haben. Und ebenso, wie es die „radikal“ heute nicht am Kiosk gibt, wird es ihre Internet-Ausgabe nicht beim Provider um die Ecke geben.

Schlimmer noch: Die Struktur des Internet ist vergleichbar damit, daß sämtliche Kioske beim Verkauf einer Zeitung, ob harmlos oder subversiv, deine Adresse notieren und, dank des neuen Fernmeldegesetzes bzw. der Fernmeldeüberwachungsverordnung, Polizei und Geheimdienste an jedem Kiosk jemand stehen haben, um die Adresse mitzulesen. Es gibt Versuche, dagegen mit „anonymen Servern“ und Verschlüsselung vorzugehen. Aber das können, wie schon erwähnt, nur wenige ExpertInnen nutzen – sobald es eine massenhafte, erfolgreiche Erscheinung wird, wird es mit Sicherheit Verbote geben. Die bisherigen Versuche der deutschen Bundesanwaltschaft, auch außerhalb Deutschlands im Internet zu wirken, z.B. gegen die „radikal“ oder gegen Kurdistan-Infos, sind die ersten Vorboten eines Prozesses, in dessen Verlauf die Bahnen des Internet geordnet, die Gebühren für Datentransfers geregelt, die Haupt-Knotenrechner von allen möglichen Behörden kontrolliert und angezapft werden. Und während es dann auf den realen Autobahnen vielleicht noch heißt: Freie Fahrt für freie Bürger!, zeigen die Datenautobahnen bereits, wie es auch anders geht: reglementiert, kontrolliert, zensiert. Organisationen wie die britische „Internet Service Providers Association“ oder die deutsche „Internet Content Task Force“ sind auf diesem Gebiet Vorreiter (vgl. Taz 10.10.1996).

Das Internet ist von seiner Struktur her ein ideales Terrain für profitorientierte „Kommunikation“, in welcher (s.o.) Medien als Instrumente der Simulation, Entfremdung und Ausbeutung eingesetzt werden.
Das Internet ist ein Medium neben anderen, es hat den Vorteil, weltweite Vernetzungen zu erleichtern, und den Nachteil, diese Vernetzung sehr überwach- und kontrollierbar zu gestalten. Und, vor allem: Es raubt allen, die es benutzen, Zeit! Noch ein, zwei Neue Medien, und wir erleben nichts mehr außerhalb, was wir uns in ihnen mitteilen können…

MEDIEN UND MÖGLICHKEIT UND HOFFNUNG

Ich entferne mich jetzt von dem allgemeinen Blabla zu Kommunikation und Medien an sich und komme zu „unseren“ Medien, also jenen, die von Menschen gestaltet werden, die – mehr oder weniger heftig – für eine befreite Gesellschaft kämpfen.
Einiges, was ich hier zur Funktion insbesondere linker Medien zu sagen hätte, hat die „autonome a.f.r.i.k.a.-Gruppe“ in ihrem Text „Bewegungsle(eh)re?“ bereits gut auf den Punkt gebracht. Der Text findet sich u.a. in der „Radikal“ 154 (Juni 1996) und in der „links“ Jan./Feb.96. Gestört hat mich daran lediglich das gelegentlich allzu heftige Durchschimmern der „Agentur Bilwet“ aus den Niederlanden, besonders in den Ausführungen zum Internet. „Bilwet“ ist m.E. ein geniales Labor der rebellischen Kommunikationstheorie, aber die Forscher(Innen??) darin lieben alle ihre Ideen und Versuchsobjekte so sehr, daß sie manchmal die Spielerei allzusehr der kritischen Reflexion vorziehen – so etwa, wenn sie von den interaktiven Möglichkeiten des Internet schwärmen, siehe dazu den vorigen Absatz „The fortune-teller…“

Ich will hier den bilwet/a.f.r.i.k.a.-Ansatz kurz zusammenfassen:
– Es gibt zwei Arten linker Medien: „Alternative Medien“, die versuchen, unübliche Informationen in die gesellschaftliche Kommunikation zu transportieren („Gegeninformationen“/ „Gegenöffentlichkeit“); und „Eigene Medien“, die vor allem der Identifikationsstiftung einer politischen Szene und ihrer internen Kommunikation dienen.

– Den „Alternativen Medien“ liegt die Idee zugrunde, durch die Verbreitung von mehr, richtigeren oder rebellischeren Informationen ließe sich das gesellschaftliche Kräfteverhältnis beeinflussen, da vielen Menschen nur gewisse Informationen fehlten, um sie zum „richtigen“ Handeln zu bringen – als „Megafon-Modell“ bezeichnet (hierzu paßt auch „Was wahr ist, wird gedruckt“). Dies steht in einer Tradition von z.B. B.Brecht, dem jungen H.M.Enzensberger (und etwa auch W.Münzenberg vor 70 Jahren??).

– Dem wird entgegengehalten, daß Informationen zur Genüge verfügbar sind und Menschen nur dann zum „richtigen“ Handeln kommen, wenn sie gleichzeitig eine Möglichkeit zum aktiven Handeln erkennen können.

– Massenmedien sind an sich undemokratisch, d.h. ebensowenig „zum Guten“ einsetzbar wie die DDR-Atomkraftwerke „in der Hand des Volkes“.

– Linke Medien sind nicht selbst stark (gewesen), sondern spiegeln nur einen Zustand der Stärke wieder, den eine politische und/oder soziale Bewegung erkämpft hat.

– Den Teil zum Internet lasse ich weg, da ich die „Chancen“ eines „interaktiven Mediums“ Internet für so gering halte, daß eine Diskussion darüber hier nicht lohnt… siehe oben.

– Linke Medien sind heutzutage „Fanzines einer Subkultur“, d.h. sie richten sich an ein eingegrenztes Publikum. Das heißt nichts anderes, als daß nach Meinung der a.f.r.i.k.a.-Gruppe der anfangs kritisierte Ansatz der „Alternativen Medien“ nicht nur falsch ist, sondern faktisch gar nicht mehr existiert.

Das Konzept der „Gegenöffentlichkeit“ ist ursprünglich ein kommunistisches Konzept, das eng gekoppelt war an eine gesellschaftliche Situation, in der diejenigen, die die Gegenöffentlichkeit schufen, ein politischer Machtfaktor waren. Sie erfüllten also – durch die Existenz der KPD und anderen starker Organisationen – die aufgestellte Bedingung, daß zu der Gegeninformation auch eine erkennbare Handlungsmöglichkeit gehört. Mit der neuen linken Bewegung seit 1967/68 kam das Konzept zurück, ohne diese materielle Grundlage zu haben – sozusagen ein Kopf ohne Körper. Die Idee des Kopfes, er werde sich seinen Körper schon zurechtbauen, spukt seit damals eifrig und erfolglos umher.

Ich möchte aber einmal infrage stellen, ob der Begriff der „erkennbaren Möglichkeit“ richtig gewählt ist. Mag sein, daß ich hier der „Frankfurter Schule“ arg hinterherhinke, doch mir scheint es wichtig, neben die „Möglichkeit“ den Begriff der „Hoffnung“ zu stellen. Wenn wir uns heute unsere Medien ansehen, so finden wir, daß es seit nun fast 30 Jahren eine stetige theoretische Debatte über Möglichkeiten gibt. Es gibt nicht zu wenige, sondern eher viel zu viele Angebote, revolutionäre Modelle, Gesellschaftsanalysen. Auch in den letzten Jahren, wo gemäß der obigen Analyse das Scheingebäude der „Alternativen Medien“ sich zunehmend zersetzte, blüten die „Eigenen Medien“ in großer Vielfalt und entwarfen des langen und breiten Handlungsperspektiven. Dennoch ging von diesen keine bündelnde Kraft aus, die revolutionären Ansätzen wieder mehr Stärke verschafft hätte. Warum nicht? Ich würde folgende Thesen dazu anbieten: Der Begriff der „Möglichkeit“ ist verknüpft mit dem Begriff des „Wissens“, während die „Hoffnung“ mit dem „Mythos“ verknüpft ist.

Zwischen diesen vier Begriffen besteht eine enge Wechselwirkung. Hoffnung ist sozusagen die irrationale Schwester der Möglichkeit, während Mythos der irrationale Bruder des Wissens ist. Da das Wissen des einzelnen Menschen nicht direkt kollektiver Besitz der Masse werden kann, verwandelt es sich beim Übergang vom einen zum anderen zum Teil in Mythen[5]. Ebenso verliert die „Möglichkeit“ ihre Genauigkeit und Bestimmbarkeit, wenn sie kollektiv wird. Sie wird zur Hoffnung, die insofern irrational ist, als die soziale Gemeinschaft der Menschen sich nur sehr bedingt durch die Gleichschaltung des Geistes herstellt, sondern wesentlich durch emotionale Prozesse.

So, wie die „Möglichkeit“ nur da entstehen kann, wo „Wissen“ existiert, so ist die „Hoffnung“ abhängig davon, daß „Mythen“ bestehen. Der Begriff des Mythos ist sehr negativ besetzt, da er erstens meist als dem Wissen entgegengesetzt benutzt wird, zweitens stets Manövriermasse von politischen Demagogien war, insbesondere im Nationalsozialismus. Die alten Kommunisten haben auch heftig damit gearbeitet. Die Ablehnung der Mythen ist also ein durchaus bewußter und begründbarer Schritt der neuen revolutionären Bewegungen. Da sie sich aber nicht über die oben beschriebene enge Verkettung im Klaren waren, bedeutete der Abbau der Mythen auch den Abbau der Hoffnung – diese zog sich zurück in die intellektuellen Reservate des „möglichen“, von wo keine Kraft ausstrahlt, die mehr als nur kleine Kollektive zum Handeln bringt.

Ich will hier weder behaupten, dß wir jetzt alle ganz mythisch werden sollen, noch, daß dies die Lösung aller Fragen wäre. Aber ich denke, daß der Verlust der Hoffnung ein, wenn nicht der Dreh- und Angelpunkt der aktuellen Schwäche revolutionärer Perspektiven ist. Damit zu tun hat sicher auch die kollektive Erinnerung der schweren Niederlagen dieses Jahrhunderts; der Schock sitzt tief und ist eine anhaltende Lehre für uns wie für all die Menschen ringsum: Wer tut, was wir tun, und denkt, was wir denken, weiß genau, was ihm oder ihr passieren kann. Die Angst vor Gestapo und KZ zeigt sich darin, wie konspirativ heute in Deutschland oft linksradikale Politik stattfindet, obwohl die Verhältnisse verglichen mit den meisten anderen Staaten hier noch immer relativ liberal sind – das Gefühl, es könnte ganz rasch wieder kippen, drückt sich auch in den langwierigen „Faschisierungs“-Debatten seit Anfang der 70er Jahre aus. Viele möchten sich nicht aus dem Schutz der Anonymität herausbegeben – auch wenn er oft ein eingebildeter ist, weil ausgerechnet die Sicherheitsbehörden, vor denen sich geschützt werden soll, meist ganz gut im Bilde sind, während die Anonymität als politischer Ausdruck den anderen Menschen gegenüber übrigbleibt und darin auch ganz schädlich sein kann, weil sie durch ihre Fremdheit und Isolierung Solidarisierungen erschwert.

Zurück zum „Mythos“. Ohne die politische Vergangenheit befrachtet, zeigt sich, daß Mythen dauernd und überall entstehen und auch wieder verschwinden. Wir können uns ihnen nicht entziehen, weder persönlich noch kollektiv. „Sub Marcos“ von der EZLN ist ein positiver Mythos, die Vorstellung der „sich immer mehr zuspitzenden Zustände“ ein negativer. Auch die absolute Verneinung aller Mythen kann selbst zum Mythos werden. Ein Mythos besteht an erster Stelle nur darin, daß bestimmte Wahrnehmungen von anderen abgetrennt, mit Wichtigkeit versehen und geistig wie gefühlsmäßig „eingefroren“ werden (was aber eher heiß- als kaltblütig stattfindet). So gesehen, ist auch geschichtliche Tradition, deren Mangel oft beklagt wird, mythisch, ebenso wie vorzeigbare Beispiele des Erfolges (oder leider auch des Mißerfolges). Wenn wir heute die kommunistischen Mythen ablehnen (etwa die plakativen Köpfe der ML-Gruppen oder die KPD als Wunderheilmittel), so denken wir oft, wir würden linke Mythen an sich ablehnen – stimmt aber gar nicht. Der Begriff des „Mythos“ bedarf einer Entmythologisierung.

Medien sind mythenbildend. Wenn auch in der heutigen Zeit die Mythen meistens sehr kurzlebig sind, so folgen sie doch den alten Prinzipien. In Medien beginnt immer nur alles, nie hört etwas auf – höchstens, um etwas anderem Platz zu machen. Das ist natürlich ein ganz falsches Bild der Realität, denn in Wahrheit hört dauernd etwas auf. Ein Mythos kann aber nicht ungestraft aufhören, er kann nur von anderen verdrängt werden, sonst folgt ihm Desorientierung auf dem Fuße. Darum ist es sehr gefährlich, Politik auf Mythen zu gründen. Es ist aber nötig, sie daran zu orientieren.

UNSERE MEDIEN LEBEN NOCH

Wenn es zutrifft, daß unsere Medien die Begleitmelodie zur tatsächlichen Stärke der revolutionären Bewegung spielen, dann heißt das – um beim Bild zu bleiben – daß sie uns wie auch „außenstehenden“ Menschen eine Chance bieten können, durch die Aufnahme und Weitergabe der Melodie die Identität dieser Bewegung zu stärken. Nicht um die Anhäufung „wahren“ Wissens geht es, sondern um die Vermittlung sozialer wie politischer Stärke und Hoffnung. Wo wir selbst keine Hoffnung haben, können wir niemanden gewinnen jenseits des Kulturpessimismus der Intellektuellen. Unsere Stärke schreiben wir nicht herbei, sondern gewinnen wir in realen Prozessen. Die positiven Beispiele der Vergangenheit waren dabei stets Momente, in denen nicht geplant, sondern von mächtigeren Strömungen beeinflußt viele Menschen zusammenkamen und Bedürfnisse entwickelten: StudentInnen an der Uni, Leute in besetzten Häusern…

Wenn nun unsere Medien sich beklagen, sie würden nur konsumiert, so verkennen ihre MacherInnen, daß sie eben nur Ausdruck einer umgebenden Situation sein können. Der reine Konsumismus wird genau dann aufhören, wenn viele Menschen zusammenströmen und handeln und dies sich auch kommunikativ ausdrücken will. Dieses Zusammenkommen können Medien nicht ersetzen.

1993 kritisierte ich das „Interim“-Konzept, woran sich immerhin jemand so gut erinnert hat, daß zwei Zitate 1996 Eingang fanden in das Buch „20 Jahre radikal“ (fühle mich geschmeichelt). Meine Kritik an der Beliebigkeit einer Debatte, die ohne klaren Bezugsrahmen geführt wird (wer äußert sich? für wen? wer repräsentiert was? etc), ist bestehen geblieben – die Verhältnisse haben sich wenig geändert. Meiner Gegenüberstellung zweier Zeitungskonzepte – kurz zusammengefaßt: Redaktionskonzept vs. Infosammlungskonzept – wird in dem Buch entgegengehalten, „jede Form hat ihre Berechtigung“ und „die Vielfalt der Medienkonzepte war immer eine Stärke undogmatischer linksradikaler Presse“. Ich will hier nicht Trübsal blasen – ich finde nicht, daß sich die undogmatische linksradikale Presse unbedingt verstecken muß vor anderen linken Medienkonzepten. Ich halte aber die rein positive Verwendung des Begriffes „Vielfalt“ hier für einen Kurzschluß, ein Überbleibsel aus jenen Tagen Anfang der 80er Jahre, als zur Vielfalt auch das Vertrauen gehörte, Teil einer rollenden Lawine zu sein. Vielleicht gab es damals zuwenig linke Medien – ich bezweifle es -; gewiß gibt es heute nicht zu wenige. Das Problem der linken Medien ist ihre Vielfalt (geworden), ihre Bezugslosigkeit. Niemand kann mehr den Überblick behalten über die vielen Schriftwerke, und niemand weiß mehr so genau: Bin ich nun gut, gut genug, informiert? Wer es genau wissen will, vergräbt sich im Wissen und ward nicht mehr gesehen, oder nicht mehr verstanden. Es verbreitet sich ein Gefühl der Unwissenheit, relativ zum vorhandenen Wissensberg. Die Masse der zur Verfügung stehenden Informationen steht in einem zunehmenden Mißverhältnis zu den daraus folgenden Taten. Die einstmals kollektiv identitätsstiftende Wirkung der (gemeinsam) konsumierten besonderen (=linken/linksradikalen) Informationen ist kaum noch zu spüren. Hier zeigt sich die von der a.f.r.i.k.a.-Gruppe beschriebene Demaskierung des Modells „Gegenöffentlichkeit“.

Die ursprüngliche Funktion einer Zeitung ist, Informationen gefiltert weiterzugeben und aus den Informationen Ideen und Perspektiven abzuleiten (woraus auch die Filterkriterien ersichtlich werden). Von wegen, „was wahr ist, wird gedruckt“ – Unsinn! Höchstens die Negation ist sinnvoll: Was unwahr ist, wird weggefiltert, hoffentlich. Und ein kleiner Seitenhieb auf das „radikal“-Intro vom November 1995 (Nr.153), in dem es auch um diesen Satz geht: Da schimmert doch auch wieder, trotz Reflexion, das oben beschriebene „Megafon-Modell“ durch.

Die Wahrheit kann hilfreich sein, gewiß, aber wer glaubt denn z.B. im Ernst, die Deutsche Normalbevölkerung habe in der Nazi-Zeit nicht gewußt, was vor sich geht? Entscheidend ist, daß sie nicht wissen wollte, und da nützt auch kein Reden mit Engelszungen… also, das Schmücken mit der Wahrheits-Feder bringt nicht viel weiter, das andere Extrem, z.B. vor 60 Jahren Willi Münzenbergs taktisches Verhältnis zur Wahrheit zugunsten der Interessen der kommunistischen Bewegung allerdings noch weniger. Ein subversives, radikales Medium muß sich bewußt sein, das die Herstellung einer eigenen Wahrheit im Wesen des Mediums selbst liegt, weshalb es auch völlig nutzlos ist, dagegen anzugehen mit verstärkten LeserInnenbrief-Seiten oder drgl. (im Falle „radikal“ genannt „OLGA“). Auch die „Interim“ konstruiert Wirklichkeits-Bilder. Es ist nicht schlimm, daß das passiert, sondern es ist schlimm, das nicht zu erkennen. Denn wenn ich schon auf Kommunikationsformen zurückgreife, die mit Simulation arbeiten, sollte ich wenigstens darauf gefaßt sein, sonst werde ich ihr Opfer.

Nun ist, um den ersten Faden wieder aufzunehmen, das Angebot an Wirklichkeiten in Mediengestalt ringsherum erdrückend. Niemand kann all diese Versionen entschlüsseln, die „Wahrheit“ dahinter dingfest machen. Alle wünschen sich insgeheim, daß jemand daherkomme und endlich alles in drei Sätzen zusammenfasse. Der Mythos „radikal“ lebt wesentlich davon, daß er gefüttert wird mit jenem hohen Anspruch – was umso leichter geht, als die Zeitung in einer Sphäre der Ungreifbarkeit schwebt, materiell wie inhaltlich. Sie legt sich nicht fest auf ein Konzept, bietet Ansatzpunkte für alle möglichen Erwartungen: hier Infosammlung, dort redaktionelle Beiträge, dann wieder Dokumentation, Debatte… mal wird unter dem Motto, Spiegelbild der linksradikalen Realität zu sein, eher mittelmäßiges serviert, dann wieder der theoretische Höhenflug gewagt. Das Niveau der „radikal“ ist besser als sein Ruf, doch in jeder denkbaren Richtung gibt es in Deutschland mindestens eine linke/linksradikale Zeitung, die viel besser ist, ob das nun heißt, daß darin schlauer dahergeschrieben wird oder gründlicher recherchiert oder einfach genauer dokumentiert. Das unerfüllte Versprechen der „radikal“, all dies unter einen Hut zu kriegen, ist ein Teil ihres Mythos. Ein anderer Teil ist, wie bekannt, ihr Durchhaltevermögen.

Ich kann an mir selbst das ambivalente Verhältnis zu den Mythen „radikal“ und „Interim“ beobachten. Der „Interim“ riet ich seinerzeit sogar, sich aufzulösen – der „radikal“ hätte ich es auch oft genug geraten. Mir schien, daß beide eher Hindernisse waren bei der Entwicklung von unmittelbarer Kommunikation der Menschen untereinander. Doch solange ich befürchten muß, daß das Verschwinden eines solchen Projektes nichts weiter bewirkt als eben, daß es dann weg ist, und sich aber gleichzeitig nichts neues, anderes entwickelt, bleibt mir der Auflösungs-Rat im Halse stecken. Mir fehlt dann der Mut, zu sagen: Schauen wir doch einfach mal, was passiert – das Schweigen der Lämmer oder die Ruhe vor dem Sturm oder was?

Dabei lasse ich bewußt die Folgen der Repression beiseite. Die Frage, ob eine Zeitung politisch gewollt ist, steht zuerst an. Denn wenn ich vergleiche, was für ein enormer Aufwand hinter einer bundesweiten illegalen Zeitung stehen muß, was für Fahndungskräfte dadurch mobilisiert werden und was für ein Repressionsschlag daraus folgt – der nun wiederum weitere Leute beschäftigt, ihre Kräfte auszehrt, neue Spaltungen hervorbringt -, und was andererseits als Zeitung tatsächlich rauskommt, so würde ich wohl ins Zweifeln kommen, ob es sich lohnt.

Ich würde mir wünschen, daß die „radikal“-Leute wegkommen von dem Druck, den Mythos des Durchhaltens erfüllen zu müssen (jetzt gerade!), wobei sie dem Produktionsstreß die nötige Ruhe für neue Perspektiven opfern. Die „radikal“ hat oft interne Konflikte nach außen getragen, aus denen auch immer wieder deutlich wurde, wie sehr der Blick verengt wird, wenn alle im Boot sitzen und sich gegenseitig anstarren. Das zeigt sich für mich auch im redaktionellen Stil und erklärt, wie einige Frauen aus der „radikal“ in ihrem Beitrag zum dem o.g. „20 Jahre…“-Buch zu der Einschätzung kommen: „…wir finden es enorm, wie kontinuierlich gegen jeden Szene-mainstream, der immer schon sehr oberflächlich und mit wenig Instinkt für politisch notwendige praktische Schritte agierte, gearbeitet wurde und wird.“

Meiner Meinung nach repräsentierte die „radikal“ meist ganz genau diesen autonomen Mainstream, falls der überhaupt identifizierbar war oder ist. Zum Beispiel: Stets hielt die „radikal“ die Flagge der Militanz hoch; wiederum die erwähnten Frauen schreiben: „Auch heute <1996> haben wir (…) häufig den Eindruck, daß (…) allein die Position ein Dorn im Auge ist, die unablässig durch die Form der Organisierung daran erinnert, daß (…) alle linksradikale Politik nichts ist, wenn sie nicht ein militantes Standbein hat.“ Ich will zu ihren Gunsten annehmen, daß sie „Militanz“ eher so verstehen wie in dem Text „Anfangen, aber nicht um jeden Preis“ (Interim 388, 13.9.96): Als „entschiedene und unversöhnliche Haltung gegenüber HERRschenden Unterdrückungs- und Ausbeutungsstrukturen“. Aber was ist dann der Unterschied zu „linksradikal“? Ich muß meine Annahme wohl zurücknehmen und stattdessen annehmen, daß für sie nur linksradikale Politik zählt, die sich auch militant im engeren Sinne, das heißt gewaltsam, äußert. Das finde ich etwas überheblich. Aber es ist genau das, was die „radikal“ seit über zehn Jahren praktisch vertritt und was mit dazu beiträgt, daß sie eben eine Spezialpostille der „militanten Szene“ (wieder im engeren Sinne) oder was sich dafür interessiert wurde.

Ich fände eine „radikal“ viel wertvoller, die versucht, sich stärker am Redaktionskonzept zu orientieren. Ich habe die Vermutung, daß das schon deshalb sich nicht durchsetzen konnte oder kann, weil es von den beteiligten Menschen gar nicht geleistet werden kann – weil sie so beschäftigt sind mit der Aufrechterhaltung der technischen und formalen Struktur. Frauman stelle sich z.B. vor: Die derzeit in der „Interim“ stattfindende Sexualitäts-Debatte, die früher oder später wohl versanden wird wie andere Debatten zuvor, und deren Beiträge immer längere Vorworte zur Rekapitulierung des Diskussionsverlaufes brauchen, würde in der „radikal“ aufgearbeitet – nicht nur dokumentiert (ist ja nun auch zu lang), sondern redaktionell bearbeitet, ausge-wertet, weitergedacht… sicher, das könnte auch in der „Arranca“ stehen, oder anderswo (Kann es in der „radikal“ erst stehen, wenn die militante Gruppe „Flammende Herzen“ sich dazu geäußert hat?). Ich gebe zu, ich sage damit nichts anderes als „erfüllt doch bitte schön euren Mythos“.

Im Intro der Nr.153 im November 1995 heißt es: „Die radikale Linke braucht eine organisierte, bundesweite Kommunikationsmöglichkeit, die sich der staatlichen Kontrolle entzieht.“ Abgesehen von der Aufwertung, die die Zeitung derzeit aufgrund der Solidarität nach dem 13.6.95 erfährt – ist die „radikal“ mehr als eine „Möglichkeit“?
Ich fände eine „radikal“, die wie gehabt weitermacht, schlechter als eine, die aufhört. Wenn schon dem nicht nachlassenden Verfolgungsdruck standgehalten wird, wenn schon riskiert wird, daß das §129-Konstrukt einer „kriminellen Redaktionsvereinigung“ juristisch durchgesetzt wird, wenn schon Leute für das Projekt in den Knast gehen (ob sie nun was damit zu tun haben oder nicht), dann soll es sich wenigstens politisch lohnen. Und das würde in meinen Augen bedeuten, daß die „radikal“
– mehr Gewicht auf redaktionelle und journalistische Arbeit legt und gewissermaßen identifizierbarer wird;
– formal sich selbst und das Medium wichtiger nimmt (nieder mit der Bleiwüste);
– angesichts der seltenen Erscheinungsweise den Aktualitätsdruck ganz anderen Zeitungen überläßt (z.B. der „Interim“);
– auch mal Texte strafft oder kürzt;
– öfter wegkommt vom Subjektivistischen und Selbst- bzw. Szenespiegelnden. Ich will nicht nur lesen, was ich schon immer bestätigt haben wollte, sondern auch Hinweise auf andere Sichtweisen bekommen.

In der letzten Ausgabe (Nr.154/Juni 1996), die ich sehr gelungen finde, sind diese Ansätze viel stärker als früher vertreten!
Nach diesen speziellen Gedanken zur „radikal“ fällt es schwer, den Bogen zurück zu Medien an sich zu schlagen. Wie im Falle der „radikal“ geht es mir auch bei anderen Zeitungen so, daß ich ihren Nutzen beim Blick auf die engeren Szenekreise sehr wohl sehe, daß mir diese Erkenntnis aber abhanden kommt, sobald ich weiter schweife und größere Zusammenhänge betrachte. Und es scheint ja fast so, als mache die „Interim“ eine der „radikal“ vergleichbare Entwicklung durch: Sie verliert in der Stadt selbst an Bedeutung und Beachtung, während sie in der Ferne zunehmend Verbreitung findet. Vielleicht ist das so wie mit der Sonne, die, wenn sie einmal ihren Kernbrennstoff verbraucht hat, ihre äußere Hülle verbrennt und sich dabei immer weiter ausdehnt, bis sie schließlich zusammenfällt… ich werde esoterisch, lassen wir das.

Mir ist eine „Interim“ auf Papier allemal lieber als eine im Internet. Noch lieber wäre es mir, wenn es einen „Interim-Ort“ gäbe, an dem sich alle möglichen Menschen treffen und miteinander reden können.
Aber vielleicht ist der Moloch Großstadt auch einfach so vielgestaltig, daß es einer außergewöhnlich starken zentripetalen Kraft bedarf (wie der Häuserbewegung 80/81), um die vielen umherschwirrenden Menschen und Grüppchen zusammenzubringen. Falls es, trotz Neuer Technologien, wieder einmal dazu kommen sollte, schaue ich natürlich zuerst in der „Interim“ nach der Adresse dieses Ortes…

Es ist der Ort der Wiederaneignung von Kommunikation und Hoffnung.

Anmerkungen
[1] Digital: [von lat. ‚digitus‘ – Finger] 1) mit den Fingern; in Datenverarbeitung, Meßtechnik und dgl.: zahlenmäßig, quantitativ. 2) ziffernmäßig.“ (Gegensatz: analog). (dtv-Lexikon 1980)

[2] vgl. hierzu auch „Postfordistische Grundrisse“, Enzo Modugno, in: Arranca! 10, Sommer 1996; er nähert sich dem Thema vom dialektischen Materialismus her und kommt m.E. zu sehr ähnlichen Schlußfolgerungen. Wenn Kommunikation als v.a. geistige Produktion anzusehen ist, so sind Medien ihre Stoffwerdung, die eine informative Mehrwertproduktion erst ermöglicht.

[3] E.Modugno würde vielleicht hier davon sprechen, daß die „informatische Maschine“ durch Spezialisierung den intellektuellen Berufsarbeiter abschafft, so wie im Fordismus Anfang des Jahrhunderts die „thermo-mechanische Maschine“ den (handwerklichen) Berufsarbeiter „zerstörte“.

[4] in „Die Schrecken des Jahres 1000“, P.M. als R.v.Gardau, Rotpunkt-Verlag 1996

[5] bei E.Modugno finden wir hier als Transmissionsriemen den „general intellect“

Veröffentlicht von Sven Glückspilz in Interim im Oktober 1996