Oktoberfest-Attentat 1980: Eine Revision

Ende Januar 2014 wird der Spielfilm »Der blinde Fleck« das Attentat beim Münchener Oktoberfest 1980 wieder zum Gegenstand vieler Diskussionen und Vermutungen machen.
Ich habe rund eineinhalb Jahren lang Recherchen zu dem Attentat angestellt und will hier ein vorläufiges Fazit ziehen. Die Ergebnisse haben mich selbst überrascht, denn sie widersprechen in wesentlichen Punkten dem bekannten »Kanon« der linken, kritischen Geschichtsschreibung.

Siehe dazu auch meinen Artikel in der aktuellen a&k 590, der inhaltlichen etwa der folgenden Einleitung entspricht.

Bereits im Februar 2013 hatte ich einen längeren Text zur mutmaßlichen Rolle der Wehrsportgruppe Hoffmann (WSG) bei dem Anschlag veröffentlicht, im September 2013 eine Analyse zur Person des vermutlichen Attentäters Gundolf Köhler. Diese beiden Arbeiten habe ich für meine hier vorgelegte Untersuchung überarbeitet und eingefügt. Der gesamte Text umfasst 160 Seiten und steht hier als PDF zur Verfügung.. Sollten sich neue Erkenntnisse ergeben, werden ich ihn aktualisieren und dies kenntlich machen.

Der Umfang des Textes macht bereits deutlich, dass es fast unmöglich ist, einzelne Aspekte des Falles isoliert und kurz zu diskutieren. Wenn ich im folgenden meine wichtigsten Schlussfolgerungen zusammenfasse, muss ich auf eine Beweisführung verzichten und dafür auf die Gesamtuntersuchung verweisen.
Ich stütze mich im wesentlichen auf vier Arten von Quellen: Ermittlungsakten von Staatsanwaltschaft und Polizei, Recherchen kritischer Journalisten, Gespräche mit Zeitzeugen (insbesondere mit früheren Neonazis) und Veröffentlichungen der Medien. Sehr wichtig ist aber auch die Interpretation der tatsächlichen oder vermuteten Geschehnisse unter Berücksichtigung ihrer »Lebensnähe« und inneren Logik – ein Aspekt, der in der Berichterstattung oft zu kurz kommt, weil den AutorInnen das nötige Hintergrundwissen über Neonazis, Ermittlungsbehörden, Nachrichtendienste, konspirative Gruppen und so weiter fehlt.

Die drei Tathypothesen, die mich am ehesten überzeugen, sind die folgenden:

A) Einzeltäter
Gundolf Köhler handelte allein oder in einem ganz kleinen Umkreis mit ein oder zwei Mithelfern bzw. -wissern; die Tat entstand aus einer unreflektierten Soziophobie ohne klare politische Zielsetzung. Möglicherweise war weder Ort noch Zeitpunkt der Explosion so gewollt, sondern Folge einer Eigendynamik der Ereignisse.

B) Unfall
Es war kein Anschlag geplant, sondern nur die Übergabe einer Bombe, die Köhler im Auftrag einer vermutlich rechtsradikalen Gruppe gebaut hatte. Die Explosion war ein Unfall aufgrund fahrlässiger Handhabung.

C) Verschwörung
Köhler wurde funktionalisiert von unbekannten Dritten – allerdings nicht von Neonazis -, die das Ziel verfolgten, die fast verlorene Bundestagswahl für die CDU/CSU und Franz Josef Strauß noch zu retten. In diesem Fall ist anzunehmen, dass eigentlich eine noch schlimmere Wirkung beabsichtigt war, etwa die Explosion der Bombe in einem Bierzelt. Wenn es also eine Verschwörung gab, ist diese offenbar gescheitert.

Interessanterweise führen alle drei Hypothesen zu der Vermutung, dass die Explosion der Bombe so wie sie stattfand nicht geplant war. Das macht es natürlich noch schwieriger, anhand des konkretes Tatablaufs zu ermitteln und Schlüsse zu ziehen.

Einzelne Schlussfolgerungen

Meine wichtigsten Schlussfolgerungen aus den Recherchen, die mich zu den drei genannten Tahypothesen führten, sind diese:

1. Die Ermittlungen der Polizei waren fehlerhaft, aber zielten nicht auf Vertuschung ganz anderer Tathintergründe. Die Einflussnahme des bayerischen Innenministeriums hat den Ermittlungen geschadet, doch die Gründe dafür scheinen eher im allgemeinpolitischen Bereich, nicht im Bereich von Verschwörungen mit Tatbezug, gelegen zu haben.

2. Gundolf Köhler war tatsächlich der Bombenleger. Er war in der Lage, eine funktionierende Bombe zu bauen, zumal die Münchener Bombe allem Anschein nach nicht besonders professionell gebaut war.

3. Es gab möglicherweise, aber nicht sicher, Mittäter. Von den Zeugenaussagen aus München dazu sind nur einige wenige in dieser Hinsicht glaubwürdig und verwertbar. Das sind im wesentlichen die Aussage des verstorbenen Frank Lauterjung sowie die Aussagen zu einem Streit am Tatort kurz vor der Explosion und zu zwei Personen neben Köhlers Leiche, die den Getöteten zu kennen schienen. Die Beobachtungen sind aber zu ungenau, um entscheiden zu können, ob es sich um Mittäter, Mitwisser oder noch weniger stark involvierte Personen handelte.

4. Es gibt keine verwertbaren Informationen zu den Motiven für den Anschlag oder zur Identität weiterer Beteiligter: Die Aussagen zu Köhlers angeblichen Motiven stammen von einem einzigen Zeugen und wurden von anderen nicht bestätigt, und dieser eine Zeuge ist nicht besonders glaubwürdig, denn er war wahrscheinlich beeinflusst von Pressemeldungen und Vorgesprächen sowie seinem eigenen Geltungsdrang. Die »Selbstbeschuldigungen« von Ulrich Behle 1980 und Stefan Wagner 1982, die auch in dem aktuellen Spielfilm erwähnt werden, sind nicht ernst zu nehmen, sondern waren situationsbedingte Angebereien.

5. Die Neonazi-Spur gibt so gut wie nichts her. Organisierte und politisch aktive Neonazis betrachteten den Anschlag durchweg als »gegen das Volk« gerichtet, er entsprach auch überhaupt nicht den Zielen und der Vorgehensweise rechtsradikaler gewalttätiger Gruppen dieser Jahre. Wenn überhaupt, so müsste eine völlig abgeschottete Kleingruppe – ähnlich dem NSU zwanzig Jahre später – den Anschlag verübt haben. Es ist aber über die damalige, nicht besonders große Neonazi-Szene soviel bekannt geworden durch Aussteiger, Prozesse, Ermittlungsakten und antifaschistische Recherche, dass kaum vorstellbar ist, dass eine solche Gruppe bis heute unbekannt bleiben konnte.

6. Die WSG Hoffmann war nicht in den Anschlag verwickelt. Die vorgebrachten Indizien gegen die WSG, ob sie nun »weiche« Kriterien wie die Motivation oder »hard facts« wie den Fahrzeugkonvoi zur Tatzeit und dessen Observation betreffen, sind sämtlich nicht stichhaltig, einige Details wirken sogar entlastend.

7. Eine größere Verschwörung, etwa von staatlichen Geheimdiensten oder anderen Interessengruppen, ist vorstellbar, es fehlen jedoch Indizien dafür. Sie bleibt daher spekulativ und stützt sich fast nur auf Überlegungen zum möglichen Motiv (»cui bono«) und auf Zweifel an der (Allein-)Täterschaft Köhlers. Das gilt auch für den Verdacht, das »Stay-Behind«-Netzwerk und damit Teile des BND seien möglicherweise verwickelt gewesen. Es gibt keine Hinweise auf eine Verbindung zwischen dem 1981 bei Heinz Lembke entdeckten mutmaßlichen Stay-Behind-Sprengstoff und dem Münchener Anschlag.

8. Es ist eher unwahrscheinlich, dass es bisher unentdeckte Sach-Beweismittel zu dem Anschlag gibt. In den Ermittlungsakten gibt es möglicherweise noch Fehler und nicht zu Ende ermittelte Spuren, aber aller Wahrscheinlichkeit nach keine übersehenen Hinweise zur überraschenden Lösung des Falles. Im Falle einer Verschwörung wäre damit zu rechnen, dass nachverfolgbare Spuren (»paper trails«) längst beseitigt sind. Neue Erkenntnisse könnten sich fast nur aus neuerlichen – aber unwahrscheinlichen – Aussagen von wichtigen Zeugen, etwa Köhlers Freund Erich L. oder den in München beobachteten Kontaktpersonen Köhlers, ergeben.

Fazit

Dieses Fazit ist unbefriedigend und kann allein schon deshalb nicht abschließend sein. Ich kann jetzt verstehen, warum einige Journalisten das Thema fallen ließen: Wenn man nur schreiben kann, wie es offenbar nicht war, hat man keine interessante Story mehr. Die irgendwann einmal geschriebenen Vermutungen und Spekulationen bleiben aber in der Welt. Und diese Fehlerquellen etwas gerade zu rücken ist allein schon einige Mühe wert. Der Reichstagsbrand 1933 lässt sich nicht mehr aufklären und wird umstritten bleiben – vielleicht gelingt es in Fall des Münchener Anschlags, das Mosaik einigermaßen zu vervollständigen, bevor zu viel Zeit vergangen ist. Ich hoffe, eine Kleinigkeit zum Auflösen linker Mythen beigetragen zu haben.
Und ich hoffe sehr, dass – wie bereits geschehen – aufgrund von Veröffentlichungen wie dieser weitere Zeitzeugen sich bei mir (oder auch Ulrich Chaussy) zu Wort melden. Die Untersuchung des Münchener Anschlags geht weiter.