Der Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Eisenach am 4. November 2011 wirft nach wie vor Fragen auf und beschäftigt die Fantasie so mancher Medienschaffenden. Aber stellen sie auch die richtigen Fragen? Wir dürfen gespannt sein, was uns der „Nachrichtensender“ N24 heute anbietet. Der Sender, dessen „Nachrichten“ normalerweise bevorzugt aus Berichten über die tollsten Autos, Kriege und Naturkatastrophen besteht – der mithin als Kernpublikum offenbar pubertierende Jünglinge ansieht – hat angekündigt, in „Der NSU – Eine Spurensuche“ seriöse Zweifel an offiziellen Ermittlungsergebnissen mitzuteilen. Schon in der N24-Vorabmeldung wird das ausgebrannte NSU-Wohnmobil fälschlich in Zwickau verortet statt in Eisenach – kein vielversprechender Anfang.
Es steht zu hoffen, dass der befragte Waffenexperte, Herr Mittag, mit der Aktenlage vertraut ist. In der Vorabmeldung von N24 wird er als Zeuge für eine Unstimmigkeit bezüglich der Selbstmord-Hypothese im Wohnmobil am 4. November genannt, die auch schon in manchen Veröffentlichungen angesprochen wurde: Es geht um die Tatsache, dass die Tatwaffe ein sogenanntes Vorderschaft-Repetiergewehr war, im Volksmund Pumpgun genannt. Diese Waffen werfen, wie jeder Konsument von Hollywood-Filmen weiß, die Hülsen von abgefeuerten Projektilen nicht automatisch aus. Erst durch das Vor- und Zurückziehen des Schaftes fliegt die verbrauchte Hülse hinaus. Da nun Mundlos und Böhnhardt durch je einen Schuss getötet wurden und auf dem Boden des Wohnombils genau zwei passende Hülsen gefunden wurden, fragt sich, wie denn nun die zweite Hülse aus der Waffe geraten sein soll.
[Ergänzung: Der Beitrag von N24 erwies sich als deutlich besser als befürchtet. Das Thema der zweiten Patronenhülse war der einzige wirkliche Lapsus, soweit ich es beurteilen kann. Der Waffenexperte gab nach bestem Wissen und Gewissen Auskunft (ihm schien lediglich unbekannt zu sein, dass die Pumpgun Winchester im Wohnmobil einen gekürzten Lauf hatte, was natürlich auch bedeutet, dass ein Selbstmord damit einfacher zu bewerkstelligen war und sie dafür nicht auf dem Boden stehen musste). Und jetzt weiter im Text…]
Da die Polizei manchmal nicht ganz blöd ist, hat sie sich diese Frage schon vor langer Zeit gestellt und diverse Gutachten anfertigen lassen. Nachdem diese Gutachten, namentlich ein Behördengutachten des BKA vom 4. Mai 2012, eine mögliche technische Erklärung geliefert haben, wurde dieser Punkt abgehakt und in späteren Darstellungen, etwa der Anklageschrift der Generalbundesanwaltschaft und dem Abschlussbericht des Bundestags-Untersuchungssausschusses, nicht mehr problematisiert. Das öffnet jetzt wieder den Raum für Spekulationen.
Ergebnis des Gutachtens ist, dass das Hinunterfallen der bewussten Pumpgun (Winchester 1300 Defender, ca.70 cm lang) aus einer Höhe von 10 cm oder mehr ausreicht, um durch die Erschütterung beim Aufschlagen auf den Boden und nachfolgendes Umkippen das Auswerfen der Hülse zu bewirken. Der Versuch ist durch zahlreiche Fotos dokumentiert. Andere in den Medien kolportierte Erklärungsversuche, etwa ein „krampfartiger Anfall“ (taz) von Mundlos oder ein Hülsenauswurf „wenn von unten nach oben geschossen wird“ (Thüringer Allgemeine) dürften eher auf die Spekulation Einzelner zurückgehen und sind, soweit mir bekannt, kein Bestandteil der offiziellen Ermittlungstheorie.
Darüber hinaus wurde festgestellt, dass anhand der Verletzungen und der Ausschussöffnungen im Dach des Wohnmobils recht genau der Schusswinkel bestimmt werden konnte. Die Projektile hatten nämlich bei beiden Männern den Schädel glatt durchschlagen und waren durch das Dach hinausgeflogen. Demnach wurde Böhnhardt seitlich mit flach ansteigendem Winkel beschossen, Mundlos von unten durch den Mund. Die Pumpgun und die beiden Geschosshülsen lagen neben Mundlos‘ Leiche. Aufgrund der Anordnung wird es für naheliegend gehalten, dass ihm die Waffe nach dem zweiten Schuss aus der Hand und aus geringer Höhe zu Boden fiel, wo dann die zweite Hülse ausgeworfen wurde.
Dass Mundlos und Böhnhardt tatsächlich Selbstmord begingen, wird auch durch die Anrufe von Beate Zschäpe bei deren Eltern nahegelegt, wo sie nämlich genau das behauptete (den Aussagen der Mütter zufolge sagte sie gegenüber Mutter Böhnhardt, die beiden hätten sich erschossen, gegenüber Mutter Mundlos, sie hätten sich in die Luft gesprengt). Warum sollte sie so etwas wahrheitswidrig sagen? Wenn sie nicht gewusst hätte, was passiert ist, oder Zweifel am Hergang des Geschehens gehabt hätte, hätte sie doch wohl nur gesagt, dass sie tot sind. Überdies sagte Mutter Böhnhardt aus, Uwe Böhnhardt habe nach seinem Abtauchen einmal bei einer heimlichen Begegnung gesagt, dass er sich eher erschießen wolle, als in den Knast zu gehen.
Der unbekannte Dritte?
Nun zur Gegenprobe: Den Zeugenaussagen der beiden Polizisten außerhalb des Wohnmobils zufolge spielte sich alles in weniger als einer Minute ab. Wenn eine dritte Person im Wohnmobil gewesen ist, müsste diese folglich auf engstem Raum, zwischen beiden Männern stehend, erst auf den einen, dann auf den anderen geschossen haben. Darüber hinaus müsste die dritte Person Mundlos von unten in den Mund geschossen haben, und zwar so, dass das Projektil fast senkrecht darüber durch das Dach austreten konnte. Sie müsste also quasi unter Mundlos gekniet haben. Es ist kaum vorstellbar, dass die beiden Getöteten sich ohne Widerstand einfach so hinrichten ließen in einer Situation, wo zumindest nach dem ersten Schuss – mutmaßlich auf Böhnhardt – Mundlos sofort die Waffe hätte ergreifen können. Andererseits, wenn es einen Kampf gegeben hätte, bei dem irgendwie die Waffe unter Mundlos geraten und losgegangen wäre, hätte das Wohnmobil zumindest leicht schwanken müssen. Es stand aber den Zeugenaussagen zufolge ruhig da.
Beide Versionen klingen unrealistisch. Darüber hinaus haben die Polizisten in ihren Vernehmungen am 8. November 2011 beide erklärt, sie seien sich absolut sicher, dass niemand das Wohnmobil betreten oder verlassen habe.
Für die These vom Dritten Mann müsste also unterstellt werden, dass dieser Mundlos und Böhnhardt mit deren Einverständnis erschoss, sich noch die Mühe machte routinemäßig die Pumpgun zu repetieren, sodann den Brand legte, das Wohnmobil verließ und die Tür von außen wieder schloss, in die daneben liegende kleine Grube sprang und unbemerkt davonschlich. Dies alles in dem Bewußtsein, dass draußen zwei Polizisten ihre Waffen auf das Fahrzeug richteten. Eine höchst abenteuerliche Version, die mehr nach „Bourne-Verschwörung“ als nach Wirklichkeit klingt. Mir scheint, die Version des BKA ist hier im Prinzip glaubwürdiger und besser begründet als die der KritikerInnen.
Offene Fragen
Aber auf der anderen Seite gibt es einige Fragen, die dabei unbeantwortet bleiben. Bis kurz vor dem tödlichen Ende ist das Verhalten der NSUler nachvollziehbar: Sie wollten in aller Ruhe das Ende der Ringalarmfahndung in einer ruhigen Ecke abwarten. Als sie die Polizisten bemerkten, verwandelte sich die ruhige Ecke in eine Falle, denn mit dem Wohnmobil war keine Flucht möglich. Angesichts der Sachen, die sie dabei hatten, darunter die Waffe der getöteten Polizistin Kiesewetter, war ihnen klar, dass sie jetzt mit dem Schlimmsten rechnen mussten: mit lebenslangem Knast. In Anbetracht dieser Aussichten und ihrem Selbstverständnis als Kombattanten gab es für sie keinen Grund, nicht auf die Polizisten zu schießen und dabei auch den eigenen Tod in Kauf zu nehmen. Dass sie zuletzt ein Feuer legten, um Beweismittel zu zerstören, die vielleicht weitere Personen belasten könnten, und um die Entdeckung der Wohnung in Zwickau zu verlangsamen, scheint auch einleuchtend.
Dass die Maschinenpistole gleich nach dem ersten Schuss Ladehemmung hatte, war angesichts des vorhandenen Waffenarsenals aber eigentlich kein Grund, den Kampf aufzugeben. Man hätte erwarten sollen, dass die beiden nach ihren Pumpguns greifen und weiterschießen. Nach den Aussagen der beiden Polizisten folgten die ersten beiden Schüsse unmittelbar aufeinander, zwischen dem ersten Schuss (Maschinenpistole, Projektil bleibt in der Tür stecken) und dem zweiten Schuss (Tötung Böhnhardt) seien nur 2-4 Sekunden vergangen, von da bis zum dritten Schuss (Selbstmord Mundlos) noch einmal 10-15 Sekunden. Diese Schätzung ist vermutlich zu knapp, denn in einer Stresslage scheint alles schneller zu gehen. Dennoch: Wie kann innerhalb von wenigen Sekunden die Entscheidung fallen, statt zur Verteidigung zum Selbstmord zu greifen – angesichts von nur zwei Polizisten, die in Deckung gehen und nicht einmal selbst einen Schuss abgeben? Da scheint es schon eher plausibel, dass Mundlos beim Hantieren mit der Pumpgun versehentlich auf Böhnhardt schoss und danach erst spontan entschied, dem ganzen ein Ende zu setzen.
Doch wie hat Zschäpe von dem Geschehen erfahren? Und wieso wusste sie, dass es Selbstmord war?
Ungeklärt ist auch, wieso das Wohnmobil eine Art fahrender Kommandozentrale war, vollgestopft mit Geld aus früheren Banküberfällen, mit Waffen, und mit genug Ausstattung für viele Tage, wenn nicht Wochen Dauernutzung. Es ist durchaus in Betracht zu ziehen, dass die beiden Uwes so sehr auf ihre eigene Rolle abgefahren sind, dass sie sich dauernd mit ihren Fetischen umgaben. Außerdem interpretiert das BKA einen Teil der mitgeführten Sachen als Notfall-Pakete im Falle einer Flucht. Trotzdem ist zu fragen, ob es nicht weitergehende Pläne gab, zumal die beiden letzten Banküberfälle nach einer langen Pause gemacht worden waren und noch einiges an Bargeld aus früheren Überfällen vorhanden war. Auch dies ein Hinweis auf weitere Beteiligte?
Fazit: Die These, dass Mundlos und Böhnhardt zu zweit im Wohnmobil waren, als sie starben, scheint mir nicht ernsthaft erschüttert zu sein.
Dennoch sind die Unklarheiten, die bei all dem zurückbleiben, nach wie vor Indizien für weitere Beteiligte am Gesamtgeschehen.
Noch eine Randbemerkung zu der DNA-Spur einer unbekannten Person an einem Paar Socken im Wohnmobil. Die genaue Formulierung zu der Spur von „Person 46“ ist, dass sie als Mitverursacher nicht ausgeschlossen werden kann. Das ist wissenschaftlich gesehen keine sehr sichere Feststellung, deren Aussagekraft stark davon abhängt, wie viel DNA gesichert werden konnte. Wenn es sich nur um wenige Allelen handelte, kann es auch eine rein zufällige Übereinstimmung sein, die auf tausende von Menschen zutrifft.
Eigenartig ist zudem die Herkunft: Die Spur stammt von einem Paar Socken im Wohnmobil, von denen zwar keine Größe genannt wurde, die aber dem Aussehen nach eher der Fußgröße der beiden Männer entsprechen (beide trugen Größe 43-46). Während in den meisten Fällen Abriebspuren mithilfe von Wattestäbchen genommen wurden, war in diesem Fall jedoch ein Haar gesichert worden, was in dem Gutachten der Kriminaltechnik nicht unterschieden wird. Bedeutet das, dass sich in einer Socke eines der Uwes ein Haar befand, das zum Teil von Beate Zschäpe und zum Teil von einem unbekannten Mann stammte? Hier dürfte noch Nachermittlungsbedarf bestehen…