„Muito obrigado e até a vitória se Deus quiser!“
Mit diesem Satz beendete Brasiliens neuer Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva seinen öffentlichen Auftritt auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre 2003. Und in diesem kurzen Satz wird auch schon das grosse Dilemma der Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) deutlich. Denn Lula ist von vielen sehr verschiedenen Schichten gewählt worden, denen er es jetzt recht machen muss: Sein artiges „vielen Dank“ (muito obrigado) gilt der Schicht junger, fortschrittlicher Kapitalisten. „Bis zum Sieg!“ (até a vitória) ruft er kämpferisch den Linken zu. Und „so Gott will“ (se Deus quiser) schliesslich ist seine Verbeugung vor der brasilianischen Religiösität und vor den wichtigen Bündnispartnern aus dem bürgerlich-evangelikanen Lager um den Vize-Präsidenten Alencar.
In den 18 Jahren seit dem Ende der Militärdiktatur hatten sich die alten Eliten erfolgreich an der Macht behauptet und das in Lateinamerika übliche demokratische Spiel inszeniert, bei dem sich Gangstercliquen gegenseitig abwechseln in der Regierung. In den 90er Jahren hatte Lula zweimal vergeblich den Sturm auf diese Bastille versucht, als klassisch proletarischer Sozialist, hemdsärmelig zupackend. Gewonnen hat er jetzt aber mit derselben Methode wie die Sozialdemokratien in Grossbritannien und Deutschland Jahre vor ihm: Als Kandidat der Mitte, in feinem Zwirn, zuletzt mit wohlwollender Unterstützung sogar seitens der allgegenwärtigen Medienmaschine von TV Globo und bürgerlicher Kreise, die Veränderungen wollen und dafür auch etwas sozialistische Rhethorik in Kauf nehmen.
Die Wahl von Lula kann aber nicht so einfach gleichgesetzt werden mit mitteleuropäischen Wahlen. Die 1983 gegründete PT ist noch nicht etabliert, es gibt zahlreiche Fraktionierungen, darunter auch weit links stehende. Auch die Basis zieht die Partei derzeit noch eher nach links als in die Mitte. Dazu kommt die allgemeine lateinamerikanische Krise. 2002 war es durchaus nicht sicher, ob Brasilien nicht nach Argentinien das zweite Land sein könnte, dessen Wirtschaft nach Jahren des IWF-diktierten Neoliberalismus zusammenkracht. Letztlich war es ein Deal zwischen PT, brasilianischem Finanzmarkt und IWF, der Lula salonfähig machte: Der IWF versprach einen immensen Kredit von 30 Milliarden US-Dollar – und Lula versprach, ihn zurückzuzahlen. Er bot damit auch dem wachsenden Mittelstand, den aufstrebenden neuen Generationen der brasilianischen Wirtschaft, eine Alternative zu der bekannten Mafiawirtschaft der alten Oligarchie. Es ist erstaunlich, wie viele Aufkleber mit „Agora é Lula“ (sinngem.: Jetzt ist Lula dran) oder einfach der „13“ (das war die Listennummer) auch lange nach der Wahl noch auf recht schicken Mittelklasse-Limousinen prangen.
Aber nicht nur die brasilianische Wirtschaft stand am Rande des Abgrunds, auch die Linke, insbesondere die Landlosen-Bewegung, war von einem Gefühl des „Jetzt-oder-nie“ ergriffen. Die grösste linke radikale Bewegung Lateinamerikas, MST (Movimento dos trabalhadores rurais sem terra), hatte sich vor allem in den 80er und frühen 90er Jahren gegen die massive Repression von Staat und privaten Pistoleros durchgesetzt, um sich gegen Ende der 90er in ein zunehmend effektiveren Gestrüpp aus juristischen und administrativen Drahtverhauen gefangen zu sehen, verbunden mit einer kaum noch zu kontrollierenden eigenen Grösse. Nicht wenige sahen in Lulas Wahl die einzige Chance, diese Bewegung vor dem Zerfall zu retten: Eine PT-Regierung würde zumindest den staatlichen Druck mindern und verhandlungsbereit sein. Entsprechend massiv war die Wahlhilfe von MST für Lula. Obwohl MST betonte, nur ein politisches Bündnis einzugehen und sich stets eindeutig links von der PT positionierte, waren im Sommer 2002 viele MST-Büros kaum zu unterscheiden von PT-Wahlkampf-Büros.
Und schliesslich war die Wahl für viele Menschen auch ein Schritt des erwachten Selbstbewusstseins. Die Freude darüber, die alten Gangster endlich aus eigener Kraft weggejagt zu haben, war allenthalben verbreitet und weitaus grösser als die realen Erwartungen an die neue PT-Regierung. So waren die Jubelfeiern wohl vor allem ein Ausdruck der Erleichterung, dass die Lähmung der vergangenen Jahre abgeschüttelt wurde, als ein Ausdruck der konkreten Erwartung für die Zukunft.
Ein wichtiger Unterschied zu anderen Ländern Lateinamerikas ist, dass die PT eine gut organisierte Partei mit jahrelanger Regierungserfahrung in einigen Städten und Bundesstaaten ist. Von einem Anfang bei Null konnte also keine Rede sein, so dass die rechten bürgerlichen Eliten weder vom Chaos einer schwachen Regierung – wie in Venezuela – noch von der Zersplitterung der oppositionellen Basisinitiativen – wie in Argentinien – zu profitieren hoffen konnten.
Lula selbst hat das Zeug zum allseits beliebten Landesvater, aber seine tatsächlichen Gestaltungsmöglichkeiten sind gering. Wer noch vor einem Jahr im Falle von Lulas Sieg (von rechts) den kommunistischen Umsturz an die Wand malte oder (von links) einen rechten Militärputsch befürchtete, kann die Beruhigungstabletten wieder zurück in die Schublade legen. Die Realität ist weniger spektakulär, wenn auch nicht gerade beruhigend.
Die Regierungskoalition muss gegen die rechten Gouverneure in den meisten Bundesstaaten regieren und hat keine Mehrheit im Bundesparlament in Brasília (die PT verfügt über weniger als ein Viertel der Sitze). Sie laviert seit dem Beginn der Amtszeit im Januar 2003 auf der Suche nach weiteren Bündnispartnern. Die PT ist die einzige wirklich als Partei bis zur Basis durchorganisierte Gruppierung, alles andere sind lose bürgerliche Vereine mit hochtrabenden Abkürzungen, die vor allem vom Willen zur persönlichen Bereicherung zusammengehalten werden. Die PT-Spitze hat sich schon lange vor der Wahl bemüht, diesen Gruppen bürgerliche Seriösität zu demonstrieren. So wurde José Sarney, der mit seiner Partei PMDB den vorigen Präsidenten F.H. Cardoso von rechts bekämpfte, als Unterstützer von Lulas Kandidatur gewonnen und erhielt als Belohnung die Stimmen der PT bei der Wahl zum Vorsitzenden des Senats. Nur die linke PT-Senatorin Heloisa Helena, die nicht vergessen hatte, dass Sarney als erster gewählter Präsident nach der Militärdiktatur 1985 ein korrupter Diener der alten Herren gewesen war, verweigerte ihre Zustimmung und wurde dafür von der PT-Führungsspitze mit dem Parteiausschluss bedroht. Die PT-Fraktion im Parlament stimmte auch der Wahl von Inôcencio Oliveira zum Parlaments-Vizepräsidenten zu, einem Fazendeiro (Grossgrundbesitzer) der rechten PFL, der noch letztes Jahr wegen sklaverei-ähnlichen Zuständen auf einer seiner Fazendas in den Schlagzeilen war.
Die Verteilung der Schlüsselressorts der Regierung spricht eine klare Sprache. Lulas Vizepräsident Alencar, Führer des rechtsliberalen Koalitionspartners PL (Partido Liberal), entstammt einer freikirchlichen Gruppierung (wenn auch nicht, wie manchmal behauptet, der mächtigen evangelikalen „Igreja Universal“) – ein Textil-Unternehmer, dessen Fabriken gefürchtet wegen schlechter Arbeitsbedingungen und Gewerkschaftsfeindlichkeit sind. Innenminister wurde der Vordenker der Parteirechten, Dirceu. Minister für Landwirtschaft wurde ein Agrarökonom, der noch vor kurzem Verständnis für Landbesitzer geäussert hatte, die sich gegen MST-Besetzungsaktionen bewaffnen, und der bisher die Interessen von Biotech-Konzernen wie Monsanto vertrat. Minister für Industrie und Aussenhandel wurde der Aufsichtsratsvorsitzende des grössten brasilianischen Agrarkonzerns Sadia. Finanzminister wurde ein früherer Parteilinker, der inzwischen zum rechten, dem Neoliberalismus gegenüber aufgeschlossenen Parteiflügel gehört. Schliesslich wurde mit dem konservativen Henrique Mereilles, früher Chef der Boston Bank, ein auch dem IWF genehmer Präsident der Zentralbank ernannt. Glatt durchs Parlament ging Anfang Februar 2003 auch eine Erhöhung der Abgeordneten-Diäten um fantastische knapp 50% auf nunmehr fast 60.000 Reais (ca.15.000 Euro) im Monat – eine Krankenschwester verdient etwa 400 Reais, ein Salário Mínimo (staatlicher Mindestlohn) beträgt 180 Reais. Gleichzeitig wurde versucht, die Minderheit der knapp 30 ausdrücklich Linken in der PT-Fraktion mit Ausschlussdrohungen auf Linie zu bringen.
Dass der traditionelle Tortenwurf beim Weltsozialforum in Porto Alegre diesmal den PT-Vorsitzenden José Genoino traf, konnte vor diesem Hintergrund wohl kaum verwundern. Die Strategie der PT-Führung, das Weltsozialforum öffentlich als Schulterschluss von Basisbewegungen und fortschrittlicher Regierung zu verkaufen, ging aber dennoch in Teilen auf. Die linke Opposition, die sich auch in diversen linken Kleinparteien wie etwa der eher trotzkistischen PSTU formiert, ist zersplittert und hat wenig Resonanz.
Die Kluft zwischen linker Basis und PT-Führung wurde in Porto Alegre am ehesten daran deutlich, dass Lula trotz massenhafter Appelle „Fica!“ (Bleib hier!) nach Davos zum World Economic Forum reiste. Als Präsident einer der grössten Wirtschaftsmächte der Erde war es für ihn sicherlich spannender, sich mit Bill Gates von Microsoft zu treffen als mit dem ollen Rebellen Bové aus Frankreich. Die offizielle Inszenierung der ersten aussenpolitischen Aktionen Lulas – neben der Reise zum WEF die Vermittlung im Konflikt in Venezuela – machten deutlich, dass die PT auf die Rolle Brasilien als Grossmacht des Trikonts setzt, eine Rolle als „ehrlicher Makler“, der zwischen den Interessen von IWF/G8 und denen der Verdammten dieser Erde vermittelnd eingreift. Das ist sicherlich bedeutend mehr, als von irgendeiner bürgerlichen Regierung zu erwarten wäre, aber viel weniger, als die Linke sich wünschen kann und muss.
Die Abhängigkeit von bürgerlicher Opposition und IWF-Kasse macht es für die PT schwierig, die sozialen Wahlversprechen einzuhalten. Der finanzielle Spielraum ist gering, ausbleibendes Wirtschaftswachstum und zunehmende Inflation liefern die weltweit vertrauten Sachzwangs-Begründungen für das Zurückschneiden der Versprechungen. Die Erhöhung des Salário Mínimo, ein zentrales Wahlkampfargument, ist bereits nach unten korrigiert worden. Auch der grosse Coup der neuen Regierung, das Programm „Fome Zero“ (Null Hunger – sicher nicht zufällig stilistisch an die US-amerikanische Sicherheitsideologie „Zero Tolerance“ angelehnt), musste Federn lassen. Dabei wird dieses Programm von vielen sowieso schon kritisch als reine Symptom-Kurierung, als Suppenküchen-Aktionismus betrachtet: Statt die Voraussetzungen zu schaffen, dass alle sich selbst ernähren können, werden hier vor allem staatliche Spenden an Notleidende verteilt. Passend dazu startete die Supermarkt-Kette Bompreço eine Werbekampagne für verbilligte Sesta Basicas (Pakete mit rund 10kg Grundnahrungsmitteln für normal ca.25 Reais).
Andere Reformprogramme klingen wie aus dem Schröder-Blair-Handbuch. Das Programm zur Staatsreform sieht den Abbau der öffentlichen Stellen vor, private Eigeninitiative soll gefördert werden. Das hat schon zu ersten kleineren Ausständen geführt, so etwa im Februar in Recife (Pernambuco), wo Angestellte des einzigen grossen städtischen Krankenhauses mehrere Tage streikten. Einsparungen im miserablen öffentlichen Gesundheitssystem sind wirklich ein Hohn, denn den wenigen völlig überlasteten öffentlichen Zugängen zu Medizin steht schon jetzt ein reichhaltiges Angebot an schier unbezahlbarer Privatmedizin gegenüber.
Punkte macht die PT bei europäischen Linken mit dem Modell des „partizipativen Haushaltes“, also der Beteiligung der BürgerInnen an den Haushaltsplanungen, das in verschiedenen PT-regierten Städten in unterschiedlichen Formen ausprobiert wird. Eine ausführliche Betrachtung würde hier den Rahmen sprengen, aber zumindest ein Dilemma soll kurz angeschnitten werden. Die Beteiligung an den Beratungen setzt ein Mindestmass an Organisierung und Bürokratie der Beteiligten voraus. Da auch eine PT-Stadtregierung das nur sehr unvollkommen gewährleisten kann, entwickelt sich leicht ein „Recht des Stärkeren“: Diejenigen, die sich besser artikulieren können, die besser vorbereitet und organisiert sind, die über Mittel und Wissen verfügen, setzen ihre Ansprüche durch. Und das sind nicht die Armen, sondern der Mittelstand. So kann die paradoxe Situation entstehen, dass durch die Bürgerbeteiligung städtische Mittel in wohlhabende Stadtviertel umgeleitet werden und für Infrastruktur-Projekte in Favelas kaum etwa übrigbleibt. Von wirklicher Basisdemokratie und Verteilungsgerechtigkeit ist das weit entfernt.
Ein weiteres zentrales Thema ist die Landreform, deren Durchführung offizieller Verfassungsauftrag ist. MST und andere, kleinere Organisationen der Landlosen (das reicht von der katholischen CPT bis zu linksradikalen Abspaltungen von MST) haben jahrelang unter Berufung auf die Verfassung Land erstreiten können. In den letzten paar Jahren hatten die Grossgrundbesitzer und Agrar-Industriellen gemerkt, dass dem Problem mit Pistoleros und Verhaftungen allein nicht beizukommen ist. Im Laufe der 90er Jahre legte die Regierung einige juristische Fallstricke aus, so etwa ein Gesetz, durch das kurz gesagt die Überschreibung besetzten Landes an die BesetzerInnen unmöglich gemacht wird. Die PT hatte die Aufhebung dieses Gesetzes versprochen, tut aber bisher wenig für die Umsetzung. MST hatte der neuen Regierung etwas Zeit für erste Schritte gegeben, aber nach dem Carnaval (Anfang März) wurden die ersten Aktionen gestartet, um Lula an seine Versprechen zu erinnern. So gab es in diversen Bundesstaaten Besetzungen von Land und Behördengebäuden gegen das Gesetz. Ausserdem gab es zum internationalen Frauentag am 8.März Demonstrationen und Aktionen, bei denen gefordert wurde, endlich auch Ehefrauen (und nicht nur die Ehemänner) als Landeignerinnen zu registrieren und ihnen Zugang zu Krediten zu verschaffen. Noch kurz nach der Wahl hatte MST sich sehr zurückhaltend gezeigt und Lula viel Zeit versprochen. Doch nachdem die reale Politik der PT in den ersten Monaten dem typisch sozialdemokratischen „links blinken, rechts abbiegen“ entspricht, war schon im März davon kaum noch die Rede. Die liberalen Medien, die Lula und dem rechten Flügel der PT durchaus wohl gesonnen sind, ermahnten denn auch umgehend die Regierung, den Anfängen zu wehren und die erpresserischen und kriminellen Akte von MST nicht zu dulden. Gleichzeitig beklagen sich kleinere Gruppen, dass MST seit dem Regierungsantritt der PT von staatlichen Stellen bevorzugt werde.
Bei einem bundesweiten StudentInnen-Treffen im Februar in Recife, der „3.Bienal do UNE“ (União Nacional dos Estudantes) diskutierte der Kulturminister und weltbekannte Musiker Gilberto Gil, ein öko-linkes Aushängeschild der Regierung, vor tausenden ZuhörerInnen mit Marcelo Yuka, ex-Schlagzeuger der in Brasilien legendären Gruppe „O Rappa“. Dessen kritische Frage, was denn die realen Möglichkeiten seines Ministeriums überhaupt wären, konnte Gil nur mit Allgemeinplätzen beantworten, denen zufolge alle mit anpacken müssten, es gebe grosse Chancen und Gestaltungsmöglichkeiten – und konkret schlug er neue Programme zur Förderung der Kultur durch Privatinvestoren vor, zumal seinem Ministerium kurz zuvor schon wieder Geld gestrichen worden war. Den Beifall bekam Yuka.
Diese einzelnen Feststellungen machen deutlich, dass die Zwickmühle schon zu mahlen begonnen hat. Die PT kann es unmöglich den Basisbewegungen und den Kapitalinteressen gleichermassen recht machen. Es mag durchaus sein, dass im Süden Brasiliens die Hoffnungen grösser und die Kapazitäten der PT sichtbarer sind als im Nordosten mit seiner eher schwachen Linken, aus dem die meisten hier geschilderten Eindrücke stammen. Doch der brasilianische Staat ist insgesamt, gemessen an den europäischen Staatsmodellen, ein eher schwacher gesellschaftlicher Akteur, der viel behauptet, aber meist wenig schafft. Wenn die PT grosse Kampagnen verkündet, wie etwa „Fome Zero“, oder die „Operação Carnaval“ gegen Sextourismus und Frauenhandel, sind viele Leute erfreut, dass endlich mal eine vernünftige Kampagne gestartet wird, aber mit mehr als blumigen Worten rechnet kaum jemand. Bei aller Sympathie für Lula und grundsätzlicher Freude über den – wenigstens scheinbaren – Untergang der alten Elite erwarten die meisten Menschen keine einschneidenden Veränderungen.
Diese Illusionslosigkeit der meisten Menschen ist momentan noch ein Vorteil für die Regierung. Das Tempo, mit dem die PT gerade zur staatstragenden sozialdemokratischen Partei wird, wird mit sarkastischem brasilianischen Humor genommen. Dabei ist offensichtlich, dass diese Entwicklung keine ungesteuerte Eigendynamik ist. Vielmehr hat der PT-Führungszirkel um Leute wie Dirceu und Genoino nach den langen Jahren des linken Traditionalismus nun denselben kurzen Marsch in die „Mitte“ der Gesellschaft angetreten wie vorher Blair und Schröder in Europa. Während an der Basis die linken AktivistInnen in die Realpolitik eingebunden werden und die freiwerdenden Staatsposten den NGOs das Personal abwerben, geht der Kurs an der Spitze unaufhaltsam nach rechts. Man könnte sagen, Brasilien als Industrienation mit eigenem Trikont im Hinterhof bekommt jetzt endlich das, was für einen kompletten Kapitalismus noch fehlte: Eine eigene Sozialdemokratie, die modernisierungswillig ist und linken Widerstand einbindet und ruhigstellt. Ob das in einem Land wie Brasilien, wo eigentlich nie etwas so abläuft wie geplant, funktionieren kann? Zweifel sind angebracht.
Veröffentlicht in Arranca! Nr.27, Juni 2003