Ein humanistischer Prophet: Stanislaw Lem

Stanislaw Lem, polnischer Schriftsteller, am 27. März 2006 als 84jähriger gestorben, einer der wenigen wirklich großen Helden meiner Jugend Anfang der 1980er Jahre.

Lem war ein Schriftsteller und Philosoph, aber er war vor allem ein Seher – oder besser ein „Spürer“, denn er sagte von sich selbst, dass er seine Geschichten nicht sah, sondern mit den Händen erspürte. Er hatte das Gespür für das Morgen, das im Heute mehr oder weniger verborgen liegt. Angeblich war er Science-Fiction-Autor, aber das führt in die Irre: Ob es um Roboter oder Weltraumflüge, um Zukunftswelten oder Außerirdische ging – eigentlich schrieb er immer über die Menschen und ihre Gesellschaft, mal als Fabel auf die Gegenwart, mal als Prophezeiung der Things to come. Er legte damit, ähnlich wie Philip K. Dick, Grundlagen für die „Social Fiction“, für William Gibson, Ursula LeGuin, Marge Piercy, also für die eigentlich wertvolle utopistische Literatur. Vorstellungen von Netzwerken, Computerkriegen, Biochips, Matrix-Scheinwelten, Genmanipulationen waren für ihn – im Gegensatz zur gängigen Science Fiction – vor allem ein Hintergrund, um Mechanismen abzubilden, die er für allgemeingültig hielt. Vor allem die Idee von der ebenso unaufhaltsamen wie unmerklichen Evolution, ob nun menschlich oder technisch, bildete den Kern vieler seiner Welten; und um das zu verstehen, braucht es keine technischen Details, sondern den Blick auf das Ganze und auf das skurrile Wechselspiel zwischen Vertrautem und Neuen. So ließ er Raumfahrer nicht mit Laser-Faser-Warp-Technik spielen, sondern mit verlorenen Schraubenschlüsseln, Landeerlaubnissen auf Planeten, Treibstoffmangel und Langeweile kämpfen. Bei manipulierten Menschen und Cyborgs stellten sich Fragen der Besitzverhältnisse und Rechtsfähigkeit, bei der Zeitreise der psychische Konflikt zwischen Erinnerung und Neuerlerntem.

Seine Erzählungen aus diesen Morgenwelten schwebten über der Tagespolitik, oder vielmehr gruben unter ihr durch, so dass selbst konkretere Visionen – die eigentlich nie besonders optimistisch ausfielen – gute Chancen haben, auch in einigen Jahrzehnten noch Gültigkeit beanspruchen zu können. Die Zukunft ist eben doch immer irgendwie ähnlich wie das Heute, entweder weil die Menschen sich nicht ändern, oder weil sie glauben, sich nicht zu ändern. Vielleicht werden wir in Zukunft weder von chemischen Halluzinatoren noch von Steckern im Nacken noch vom Großen Bruder kontrolliert: aber mit der Idee, dass einer durch und durch manipulierten Welt nicht ein großer böser Plan zugrundeliegt, sondern das Ineinanderwirken von Menschen mit all ihren Peinlichkeiten, Fehlern und Sehnsüchten sowie eine gesellschaftliche Dynamik, die der einzelne nicht durchschaut und die scheinbar unbeeinflussbar ist – damit hat Lem im „Futurologischen Kongress“ sicherlich eine gültigere Zukunftsvision beschrieben als etwa Orwell in „1984“.

Lem blieb dabei ein wissenschaftlicher Philosoph, der nach „Exaktheit“ suchte, und das bedeutet: Die Psychologie der Einzelnen und der Massen, ihre sozialen Dynamiken, erspürte und beschrieb er, mochte sie aber im Grunde nicht. Sein Weitblick verbarg ihm das, was sich in unmittelbarer Nähe abspielte, und seine Suche nach den großen Entwicklungsgesetzen hatte keinen Platz für die kleinen. Er demontierte vorbildlich das menschen-zentristische Bild der Wissenschaft, indem er die Transzendenz künstlicher Organismen oder die unendlichen Variationen physischer Entwicklung beschrieb, aber ihn störte offenbar nicht, dass in seinen Geschichten so gut wie nie Frauen vorkamen und die Frage des Geschlechts vor allem das Thema Fortpflanzung zu betreffen schien. Hier war er, wenn überhaupt irgendwo, ein klassischer Science-Fiction-Autor: Die Zukunft war männlich, soziale Beziehungen waren meist Nebensache.

Deshalb wurde er um so ungenauer und angreifbarer, je mehr er sich dem aktuellen Geschehen und Handeln der Menschen zuwandte. Er konnte visionär schreiben über die Unterlegenheit großer zentralistischer Systeme gegenüber kleinen flexiblen selbstregulierenden Einheiten, aber zu Irak-Krieg, Al Qaida und George W. Bush hatte er nicht mehr zu sagen als jeder andere Rentner. Seine späten Veröffentlichungen haben die Leichtigkeit und Unabhängigkeit verloren, sie kamen dort an, wo bürgerliche Wissenschaft leider oft ankommt: In der Scheu vor dem Sozialen und der Berührung, im Kulturpessimismus, der dann vor allem Jugend, neue Technologien und Dummheit der Menschen allgemein anprangert. Es sei ihm gegönnt.
Bis zuletzt hat er immerhin nicht seinen sarkastischen Humor verloren, der noch bei den düstersten Vorhersagen aufschien. Es gibt nicht viele Bücher, die ich mit 16 verschlungen und mit 40 gerne noch einmal gelesen habe – aber die Fähigkeit, auf ironische Weise den unaufhaltsam fortschreitenden Untergang der Welt anzukündigen, sozusagen die literarische Anwendung des zweiten Hauptsatzes des Thermodynamik (über die zwangsläufige Zunahme der Unordnung in Systemen), das humanistische Skalpell, das er ansetzte, funktioniert damals wie heute und hat mich in meiner Persönlichkeit mitgeprägt.
Ich behaupte: Wer Lem liest und begreift, kann eigentlich kein schlechter Mensch werden. Lems Werk erzieht zur Scharfsichtigkeit, zur Selbstironie, zur Neugier, zur Toleranz.

P.S.: Wer mehr erfahren will
englischsprachige Homepage vom S.Lem
Lems Essays bei telepolis seit 1997

P.P.S.: Schaut euch nicht die Verfilmungen an – die haben wenig zu tun mit seinen Büchern.

Veröffentlicht in: ak – analyse und kritik, Nr.506, 19. Mai 2006