Der folgende Text von mir erschien leicht gekürzt im AIB 120 / Herbst 2018 (nur in der gedruckten Ausgabe)
Ein Plädoyer für gründliche Recherchen statt spektakulärer Hypothesen
Fast sieben Jahre sind vergangen seit der Aufdeckung des NSU im November 2011, mehr als elf Jahre seit dem – soweit bekannt – letzten Mordanschlag der Gruppe 2007, dennoch ist dieses besonders dunkle Kapitel des deutschen Rechtsradikalismus weit davon entfernt, geschlossen zu werden.
Das liegt vielleicht auch daran, dass sich vor allem in der linken Debatte der „Fall NSU“ kaum trennen lässt vom Thema gesamtgesellschaftlicher Rassismus und/oder Fremdenfeindlichkeit. Vor allem aber gibt es rund um die Kerngeschichte des NSU-Trios ein breites Feld bekannter, vermuteter oder auch rein spekulativer Strukturen und Beziehungen, deren Personal von Neonazis bis hin zu staatlichen Akteuren reicht. Die Annahme, es müsse um mehr gehen als um drei Fanatiker, die jahrelang eine isolierte Terrorkampagne durchziehen, ist praktisch common sense in allen Milieus, die sich mit dem Thema beschäftigen, seien es Linke, Rechte, Migrant*innen, oder auch Mitglieder von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen.
Die Bandbreite der verschiedenen Deutungen und Theorien sprengt den Rahmen eines kurzen Artikels. In den vergangenen Jahren waren es auch zumeist nicht die langen und gründlich recherchierten Beiträge, die die größte Wirkung erzielten, sondern eher diejenigen, die kurze und spektakuläre Hypothesen in den Raum stellten. Es gibt verschiedene psychologische und kollektiv-emotionale Dynamiken, die bewirken, dass der NSU größer und mächtiger gezeichnet wird als er wirklich war. Es soll hier deshalb gar nicht erst der Versuch gemacht werden, die großen Verschwörungsideen zu besprechen – denn Glaube und Gefühl lassen sich nicht mit Argumenten widerlegen.
Eine Untersuchung der kommunikativen Mechanismen, die bei der öffentlichen Be- und Verarbeitung des NSU-Falles wirksam waren, wären eine echte Bereicherung dieser Debatte.
Zwei Hälften der Wahrheit: Das Leben ist voller Widersprüche
Die meisten, die mehr oder weniger viel über den NSU gelesen und gehört haben, sind der Meinung, es gebe sehr viel ungeklärtes und rätselhaftes an diesem Fall. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich gibt es wenige Fälle in der deutschen Kriminalgeschichte, die gründlicher durchleuchtet wurden. Es gibt zehntausende Seiten an Material: Dokumente, Aussagen, auch Material des NSU selbst. Der Sammelwahn der Neonazi-Terroristen war geradezu absurd, und der Versuch Beate Zschäpes 2011, das Material durch Brandlegung zu vernichten, war dilettantisch ausgeführt.
Hinzu kommen umfangreiche Nachermittlungen nahezu aller Sicherheitsbehörden, und schließlich – vor allem dank der Untersuchungsausschüsse – massenhaft Informationen über die rechtsradikale Szene in Deutschland und über die Arbeitsweise des Verfassungsschutzes. Nie zuvor war so viel Wissen in diesem Bereich frei verfügbar, so dass sich sagen lässt, die Sorgen des Bundesamtes für Verfassungsschutz vor Publizität, die ab November 2011 zu einigen Datenvernichtungsaktionen führten, waren vollkommen berechtigt, inklusive der Furcht vor der Enttarnung von V-Leuten.
Dass sich komplexe „Lebenssachverhalte“ (wie es im Juristendeutsch heißt) nie restlos widerspruchsfrei und objektiv darstellen lassen, dass Fragen unbeantwortet bleiben und nicht alles logisch erscheint – das ist immer so, nur wird es normalerweise nicht so kritisch hinterfragt wie in Sachen NSU. In jedem Kriminallfall machen Polizei und Justiz viele Fehler. Im alltäglichen Leben wird überall fortwährend gelogen, falsch erinnert und ungenau erzählt. Die ungeklärten und rätselhaften Aspekte im Fall NSU sind nicht besorgniserregend zahlreich, sie werden nur ungewöhnlich gründlich öffentlich diskutiert.
Viele „offenen Fragen“ zum NSU sind längst beantwortet…
Nachdem im Sommer 2018 sowohl der Prozess vor dem Münchener Oberlandesgericht als auch die Arbeit der meisten Untersuchungsausschüsse in Bund und Ländern ein vorläufiges Ende gefunden haben, bleiben sicherlich einige Fragen unbeantwortet. Aus diesen lässt sich aber wenig für große Verdachtsgebäude à la „tiefer Staat“ ableiten, außer von denen, die ohnehin nur nach Futter für bereits vorgefertigte Verschwörungsideen suchen. Die „großen“ Fragen sind durch die Akten und die weiteren Untersuchungen hinreichend geklärt:
– Das Trio wurde 1998 nicht in den Untergrund „eskortiert“, sondern es gab über mehrere Jahre eine intensive, allerdings handwerklich oft erschreckend schlechte Fahndung durch Polizei und Verfassungsschutz nach den „Bombenbastlern von Jena“.
– Die Aktivitäten des NSU, das jahrelange Leben in der Illegalität, die Banküberfälle und Mordanschläge – all das ist plausibel nachvollziehbar, finanziell und logistisch möglich gewesen ohne „schützende Hände“.
– Die rassistische Ideologie des „führerlosen Widerstands“ und die Eigendynamik von Radikalisierung und Illegalität erklären die Handlungen des NSU.
– Mundlos und Böhnhardt haben am 4. November 2011 im Wohnmobil in Eisenach Doppelselbstmord begangen.
…andere Fragen zum NSU stehen aber nach wie vor im Raum
Selbstverständlich gibt es auch noch offene Fragen, die mehr als nur Details am Rande betreffen, zum Beispiel:
1.Wer außerhalb des Trios gehörte zum „inner circle“, der wusste, was der NSU tatsächlich tat?
2. Gab es eine feste logistische Struktur, die z. B. bei der Waffenbeschaffung tätig war?
3. Was hat sich genau 2007 in Heilbronn abgespielt?
4. Warum hatten Mundlos und Böhnhardt im November 2011 so viele Waffen und soviel Geld im Wohnmobil?
5. Was hat Andreas Temme, ehemaliger LfV-Beamter und in Kassel 2006 am Tatort anwesend, verschwiegen?
6. Warum hat sich das thüringische LfV in der Fahndungsphase 1998-2003 so stark engagiert?
Dazu ein paar Gedanken:
1. Wer wusste Bescheid?
Auch wenn viele zu glauben scheinen, in Nazi-Kreisen wüssten alle über alles Bescheid (und die V-Leute sowieso), ist die Realität eine andere. Es gibt keinen Anlass zu der Vermutung, ausgerechnet der NSU habe allgemein gültige Regeln der Konspiration nicht beachtet. Dazu gehört das „need-to-know“-Prinzip: Alle wissen nur das, was sie wissen müssen. Es dürfte einige Helfer*innen des NSU geben, die bis zum 4.11.2011 nicht wussten, worin sie verwickelt waren.
Es sei hier auch daran erinnert, dass es eine politisch-kriminalistische Strategie der deutschen Sicherheitsbehörden gegen die radikale Linke der 1970er/1980er Jahre war, alle Personen als „RAF“ zu denunzieren, die irgendeinen Kontakt in diese Richtung gehabt hatten. Diese Kontaktschuld-Methode sollten sich Linke in Sachen NSU nicht zu eigen machen! Es gab nicht hunderte von NSU-Neztwerker*innen, aber es gab mit Sicherheit einige Personen, die genauer Bescheid wussten – vermutlich im Bereich der inneren Blood&Honour-Struktur. Diese zu identifizieren, ist bisher leider nicht gelungen.
2. Woher kamen die Waffen?
Die Herkunft der meisten Waffen des NSU ist ungeklärt. Das muss nicht viel bedeuten: Illegale Waffen zirkulieren auf dem Schwarzmarkt, werden
gekauft und verkauft, und Waffenfetischisten reden nicht über Ideologie oder geplante Verwendungszwecke. Kaum einer aus diesen Kreisen wird dazu
öffentlich Aussagen machen, schon aus Eigenschutz und Geschäftsinteresse. Die Waffen des NSU waren nicht auffällig hochwertig oder einheitlich, so dass die Vermutung nahe liegt, es wurde genommen, was zu kriegen war. Dennoch ist dies einer der wenigen Bereiche, wo die Logistik des NSU relativ gut aufgestellt war und wo deshalb zu fragen ist, ob die beiden Uwes das allein bewerkstelligt haben.
Übrigens ist anzumerken, dass in der für die Verurteilung von Ralf Wohlleben entscheidenden Frage, ob nämlich der Kauf einer Waffe mit Schalldämpfer eine konkrete Tötungsabsicht (bzw. das Wissen davon) beweist, Anklage und Nebenklage übereinstimmend im Irrtum waren. Es gibt nämlich durchaus andere Gründe, eine Waffe mit Schalldämpfer zu erwerben. Zum Beispiel, weil sie angeboten wird und man alles nimmt was es gibt; oder weil man es cool findet und alles haben will, was technisch möglich ist; oder weil man vorhat, jemanden ins Knie zu schießen ohne Aufsehen zu erregen; oder weil man sich davon eine größere Wirkung bei einem Überfall verspricht; oder weil man aktuell zwar keine Mordpläne hat, aber ein diffuses Gefühl, auf alles vorbereitet sein zu wollen. Es gibt keinen Beweis, ob irgendeiner dieser Beweggründe für Wohlleben seinerzeit eine Rolle gespielt hat, aber es gibt eben auch keinen Beweis für das Gegenteil.
3. Was hat sich genau 2007 in Heilbronn abgespielt?
Der Mordanschlag in Heilbronn 2007 ist vermutlich das am schlechtesten aufgeklärte Verbrechen des NSU. Ein paar „investigative“ Journalisten haben sich tüchtig an der weiteren Verwirrung beteiligt durch tendenziöse Recherche und wilde Spekulation. Anders als bei anderen Taten des NSU gibt es aber offene Fragen nicht nur zum konkreten Tathergang, sondern zum ganzen Ablauf des Geschehens. Warum haben Mundlos und Böhnhardt ihren Aufenthalt spontan verlängert? Waren sie am Tatort allein? Warum war es ihre letzte Tat (soweit bekannt), und wenn ja, warum? Gab es eine personelle Verbindung zu Michèle Kiesewetter oder war das ein Zufall?
Vorstellbar scheint, dass die Tat einen qualitativen Sprung des NSU einleiten sollte, dass aber die Umstände der Tatausführung selbst und die Folgen im Gegenteil zu einer Verunsicherung und Demotivierung des NSU führten: Erhöhter Fahndungsdruck, bizarre öffentliche Meldungen (Fahndung nach dem „Phantom“), vielleicht auch das Bewusstsein, sich überschätzt zu haben und nur durch großes Glück entkommen zu sein.
4. Warum hatten Mundlos und Böhnhardt so viele Waffen und soviel Geld im Wohnmobil?
Ob es reiner Fetischismus und Kriegerkult war, der Mundlos und Böhnhardt dazu brachte, sich im Wohnmobil mit ihrer Beute und ihren Waffen zu umgeben? Es scheint durchaus möglich. Eine alternative Erklärung wäre, dass sie nach dem Bankraub in Eisenach weitere Pläne hatten, die bisher unerkannt geblieben sind.
5. Was hat Temme verschwiegen?
Andreas Temme taugt nicht zum großen Mitverschwörer, und sein Fall gibt bei genauer Betrachtung wohl nichts her für die These von der Mittäterschaft des Verfassungsschutzes. Aber ebenso offensichtlich ist, dass er gelogen hat. Hat er den sterbenden Halit Yozgat gesehen und ist weggelaufen? Hatte er geheime dienstliche Gründe, in dem Internet-Café zu sitzen? Was hat er mit seinem rechten V-Mann am Tag des Mordes in Kassel am Telefon besprochen? Wenn ich raten müsste: Es gibt da das eine schmutzige oder das andere peinliche Geheimnis, aber ein Zusammenhang
mit dem NSU ist höchst unwahrscheinlich.
6. Was hat das thüringische LfV 1998 – 2003 bezweckt?
Die Fahndung nach den Untergetauchten ab 1998 ist rein faktisch einigermaßen aufgeklärt, es bleibt aber die Frage, was das Thüringische LfV antrieb. War es das skurrile Ego von Behördenchef Roewer, der der Polizei zeigen wollte, dass er besser ist? Wollte man das flüchtige Trio anwerben und damit die entstehende rechte Terrorszene unterwandern?
Die große NSU-Verschwörung bleibt ein Phantasma
In den vergangenen sieben Jahren hat es keinen stichhaltigen Hinweis auf eine größere, gar von staatlichen Stellen planvoll inszenierte Verschwörung gegeben. Weder die Akten noch die Untersuchungsausschüsse, weder investigative Journalist*innen noch politische Gruppen haben bisher mehr geliefert als „es könnte doch sein, dass“. Solche Spekulationen beruhen stets auf vereinfachten und aus dem Rückblick verkürzten Betrachtungen der Ereignisse, sie schreiben die Geschichte auf das vorher festgelegte Ende hin, sind also ahistorisch. Ihr festes Gerüst ist das „cui bono“ (wem nützt es), das als Motivation der Verschwörer*innen unterstellt wird und alle faktischen Widersprüche überspült.
Doch nicht einmal dieses Argument funktioniert, denn was soll der übergeordnete politische Sinn einer rassistischen Mordkampagne gewesen sein, von der praktisch niemand wusste, dass sie rassistisch gemeint war (und so war es tatsächlich bis etwa 2007)? Welche politischen Widerstände etwa gegen seine Migrationspolitik hätte ein Staatsapparat bekämpfen wollen, der eben diese Politik seit Jahren fast ohne hörbare Opposition durchsetzte?
Der radikale Flügel der Linken hat leider in den vergangenen sieben Jahren die Aufklärung in Sachen NSU weitgehend den parlamentarischen
Untersuchungsausschüssen und den Medien überlassen. Stattdessen wurde der einfache Weg der polemischen Übertreibung und Verkürzung gewählt („Staat und NSU Hand in Hand“).
Dadurch wurde zwar dazu beigetragen, den politischen Druck gegen Vertuschungen und den „Übergang zur Tagesordnung“ zu erhöhen. Das geht aber auf Kosten von Aufklärung und emanzipativem Denken. Mystifizierungen und Ressentiments gegen unklar definierte Mächte, die lügen und manipulieren, sind der Stoff, aus dem auch die neurechte Massenbewegung schöpft. Davon sollten wir die Finger lassen und uns die Mühe des genauen Hinschauens und Hinhörens machen.