Meine zumeist recht kritischen Kommentare zur Behandlung des NSU-Falles haben vor allem zwei Gründe. Der eine wird in dem Kommentar „Dunkle Mächte“ dargelegt, der andere ist praktischerer Natur: Indem viel Energie darauf verwendet wird, kalten oder fragwürdigen Spuren nachzugehen, werden andere vernachlässigt, die mir wichtiger erscheinen. Dazu gehört die Frage, wer genau die Personen in der rechten Szene waren, die den NSU konkret unterstützten und wer diejenigen sind, die in seine Fußstapfen treten könnten. Denn so schlimm die Morde des NSU waren, scheint mir doch eine ganz zentrale Frage zu sein, wie sich die im Zuge des Skandals hochquellenden Informationen nutzen lassen, um eine Wiederholung zu verhindern. Dass es naiv wäre, sich dabei auf staatliche Behörden zu verlassen, darüber sind Skeptiker wie ich wohl einig mit denen, die nach Verschwörungen suchen.
Ein „Flagschiff“ in der Diskussion um Unstimmigkeiten und mögliche Verschwörungen rund um den NSU ist der Fall Temme, also die mögliche Verwicklung eines Beamten des hessischen Verfassungsschutzes (HLfV) oder gar des Amtes selbst in den Mord an Halit Yozgat am 6.4.2006 in Kassel. Ich will diesen Fall deshalb hier exemplarisch genauer untersuchen.
In zahlreichen Medien, von linken Blogs bis hin zu liberalen Tageszeitungen, wird der Fall so zusammengefasst: Andreas Temme, V-Mann-Führer beim HLfV, war während des Mordes in dem Internetcafé anwesend. Er meldete sich aber nicht als Zeuge bei der Polizei. Er führte einen V-Mann in der Neonazi-Szene, mit dem er kurz vor der Tat mehrmals telefonierte. Er besaß selbst Waffen. Er sei politisch so rechts eingestellt, dass ihm der Spitzname „Klein-Adolf“ anhänge. Das HLfV behinderte nach Kräften die Ermittlungen gegen ihn, so dass diese schließlich eingestellt wurden.
Spätestens nach dem November 2011 konnte dies als deutlicher Hinweis auf eine Verstrickung Temmes, seines V-Manns und möglicherweise des gesamten HLfV in die Mordserie gedeutet werden. Dies taten und tun bis heute nicht nur die diversen Medien, sondern untersuchten von Ende 2011 bis Frühjahr 2012 auch die zuständigen Sicherheitsbehörden.
Wieviel ist aber wirklich dran an dem Verdacht? Halten die medialen Darstellungen einer genauen Untersuchung stand? Überzeugte VertreterInnen der Verschwörungstheorie à la „Tiefer Staat“ sind durch eine genauere Betrachtung des Falles sicher nicht zu überzeugen, da sie jedes entlastende Indiz als manipuliert, jeden fehlenden Beleg als planvoll beseitigt ansehen. Lässt sich eine Behauptung gar nicht mehr halten, wird sie einfach aus dem Gesamtbild gelöscht (so geschehen mit den angeblichen „echten falschen“ Ausweispapieren des NSU, die anfänglich als großer Beweis für die Verstrickung von Geheimdiensten genannt wurden, nach der plausiblen Erklärung ihrer Herkunft dann stillschweigend unter den Tisch fallen gelassen wurden).
Es soll hier trotzdem versucht werden, den Fall Temme abzuklopfen auf Widersprüche und mögliche Schlussfolgerungen.
Was ist genau passiert am 6.4.2006?
Die Polizei hat sich um eine minutiöse Rekonstruktion des Tatablaufs bemüht – so genau, dass am Ende Zeiträume von 1-3 Minuten eine wichtige Rolle spielen. Solche Zeiträume sind durch Zeugenaussagen nahezu unmöglich sicher abzubilden, die Aussagen der Anwesenden lassen eine schlüssige Chronologie nicht zu. Deshalb wurde auf gespeicherte technische Daten (Ein-/Ausloggen an den PCs im Internetcafé etc.) zurückgegriffen. Angenommen, diese Daten sind exakt, ergibt sich folgendes Bild:
Um 16:51 Uhr loggte Temme sich im Internet-Café im PC-Nebenraum ein. Außer ihm waren noch zwei kurz zuvor gekommene Jugendliche an jeweils einem PC und spielten. Halit Yozgat saß im Eingangsraum, dort befinden sich auch Telefonkabinen.
Um 16:54 begann der Zeuge S. ein Telefonat in einer Telefonkabine, zu diesem Zeitpunkt war Yozgat sicher noch am Leben. Der Zeuge sagte aus, dass er während seines Telefonats ein Geräusch hörte („platzender Luftballon“) und jemanden vorbeigehen sah, doch ihm war die Sicht verdeckt.
Um 17:01 loggte Temme sich aus, stand auf und ging in den Vorraum, wo er Yozgat seiner späteren Aussage zufolge nicht sah. Er schaute kurz nach draußen auf die Straße, wo er auch nicht war, ging dann zurück zum Schreibtisch, legte 50 Cent hin und ging weg.
Um 17:03 beendete S. sein Telefongespräch und wollte bezahlen. Auch er sah Yozgat nicht und ging am Tisch vorbei in den PC-Raum, wo er die beiden Jugendlichen ansprach. Fast zeitgleich mit seiner Rückkehr in den Eingangsraum kam Yozgats Vater herein und entdeckte nach kurzer Zeit seinen sterbenden Sohn hinter dem Tisch.
Soweit der bekannte Ablauf.
2006 wurde in der Presse vielfach behauptet, der Mord habe sich womöglich erst kurz nach Temmes Verlassen des Raumes ereignet. Diese Darstellung basierte im wesentlichen auf einem Bericht der Bild-Zeitung vom 13.7.2006, der sich wiederum auf die falsche Angabe eines Oberstaatsanwalts stützte, der am Telefon behauptet hatte, die „Tathergangsrekonstruktion“ habe einen solchen Ablauf ergeben. Das hessische LKA entschied sich damals, die falsche Darstellung nicht öffentlich richtigzustellen, um nicht noch mehr Staub aufzuwirbeln. Da die Polizei längere Zeit sehr ernsthaft gegen Temme als Hauptverdächtigen ermittelte, soll hier keine böse Absicht unterstellt werden, auch wenn dieser Versuch zur Entlastung Temmes den hessischen Behörden zurecht als Vertuschung vorgeworfen wird. Bei näherem Hinsehen ist diese Version indessen gar keine Entlastung, ganz im Gegenteil. Denn wenn Yozgat um 17:01 noch lebte (als Temme sich ausloggte), zwei Minuten später aber tot war, müsste fast zwingend angenommen werden, dass Temme den oder die Täter gesehen hat, wenn nicht gar die Tat selbst. Für Temmes Weg nach vorne, Blick auf die Straße, Weg zurück zum Tisch, Verlassen des Ladens, Eintreten der Mörder, tödliche Schüsse, Verlassen des Ladens durch die Mörder bliebe nämlich nur ein Zeitraum von amtlich 106 Sekunden.
In diesem Fall müsste Temmes Aussage, er habe Yozgat nicht gesehen und das Geld einfach auf den Schreibtisch gelegt, vorsätzlich gelogen sein, und zwar in Kenntnis genau der Zwickmühle, in die er andernfalls geraten würde. Eine solche kühle Berechnung passt aber schlecht zu dem Persönlichkeitsbild von Temme, wie es sich aus den polizeilichen Ermittlungen ergibt. Dazu und zu den logischen Widersprüchen, die sich aus einem solchen Szenario ergeben, später mehr.
Es kann also wohl davon ausgegangen werden, dass der Mord an Halit Yozgat zwischen 16:54 und 17:01 geschah. Yozgat wurde unter Verwendung eines Schalldämpfers und höchstwahrscheinlich durch eine Plastiktüte hindurch (zur Tarnung der Waffe und Sicherung der Patronenhülsen) erschossen, während nur zwei Meter entfernt ein Zeuge telefonierte, ohne das mitzubekommen. Insgesamt befanden sich in dem Laden sechs Personen, von denen niemand den Mord bemerkte! Lediglich zwei unkonkrete Geräuscherinnerungen („dumpfes Geräusch“, „Platzen“) waren kurz nach der Tat vorhanden. Mehr noch, auch der Zeuge S. sah weder den Körper hinter dem Tisch liegen noch die Blutspritzer auf dem Tisch, als er nahezu denselben Weg im Laden zurücklegte wie zwei Minuten zuvor Temme. Das macht Temmes Behauptung, nichts bemerkt zu haben, doch um einiges glaubwürdiger.
Das LKA bemühte sich, anhand von Messungen nachzuweisen, dass Temme aufgrund seiner Körpergrösse von 1,90m Yozgat hinter dem Schreibtisch hätte liegen sehen müssen. Dazu konnte Temme nichts weiter entgegnen als dass er ihn eben nicht gesehen habe. Der fragliche Tisch war rundum verkleidet, zudem recht nahe an der Wand aufgestellt. Der Drehstuhl war, als Yozgat getroffen niederfiel, so stehengeblieben, dass er den Blick auf den Körper von der Seite verstellte. Es scheint nicht ausgeschlossen, dass eine dahinter liegende Person übersehen wird, zumal wenn die Person vor dem Tisch nicht mit einer solchen Situation rechnet. Auch der Zeuge S. hatte wie erwähnt Yozgat nicht liegen sehen. Es werden gelegentlich Fotos verbreitet, die Yozgat neben dem Tisch liegend zeigen. Diese Fotos wurden aber erst gemacht, nachdem sein Vater und andere Helfer den Körper hinter dem Tisch hervorgezogen hatten.
Was die Blutspritzer angeht, so wird manchmal der Eindruck erweckt, die ganze Tischplatte sei auffällig übersäht damit gewesen. Das ist nicht richtig. Die Verletzungen von Halit Yozgat waren kleine Einschußlöcher, aus denen anfangs nur wenig Blut austrat. Bei seinem Sturz ergaben sich ein paar kleine Blutstropfen auf dem (von vorne gesehen) rechten Bereich des Tisches, wo allerlei Dinge herumlagen, Zettel, Münzen, eine Tastatur etc., während die Aufmerksamkeit der BesucherInnen auf den mittleren und linken Bereich des Tisches gerichtet sein musste, der keine Auffälligkeiten aufwies. Es ist durchaus plausibel, anzunehmen, dass KundInnen bei flüchtiger Betrachtung die Blutspritzer nicht als solche wahrnahmen.
Die Ermittlungen gegen Temme 2006
Ist Temmes Aussage, wonach er von allem nichts mitbekam und nur „zur falschen Zeit am falschen Ort“ war, also im Gegensatz zu allen Verdächtigungen glaubwürdig? Ganz so einfach ist es nicht. Temmes Verhalten in den Vernehmungen war so auffällig, dass auch das LKA ihn über mehrere Monate als Hauptverdächtigen behandelte. Er gab sich zwar kooperativ, gestand aber manche Details aus seinem Leben nur ein, wenn sie ihm vorgehalten wurden, und auch dann blieben Widersprüche zurück. Daraus ergab sich logisch, dass er etwas zu verbergen hatte. Das brachte den vernehmenden Kommissar dazu, ihm auf den Kopf zuzusagen, es müsse entweder eine „dunkle Seite seiner Persönlichkeit“ geben oder er müsse etwas mit der Tat zu tun haben. Das LKA gab sich einige Mühe mit den Ermittlungen gegen Temme: Neben mehreren Vernehmungen wurde sein Telefon und seine E-Mail überwacht, er wurde zeitweise observiert, seine Wohnung und sein Büro beim HLfV durchsucht und sein PC analysiert, es gab Finanzermittlungen und Überprüfungen seiner Alibis bei den anderen Mordfällen. Sein Fahrtenbuch wurde ausgewertet, die von ihm geführten V-Personen auch gegen den Willen des HLfV zu identifizieren versucht. Von gezielter staatlicher Vertuschung kann in soweit jedenfalls keine Rede sein.
Die Überwachung ergab auch, dass Vorgesetzte des HLfV Temme telefonisch Informationen zum Verfahren gaben, was die Polizei so verärgerte, dass sie über Ermittlungen gegen das HLfV wegen Geheimnisverrats nachdachte. Die „Unterstützungshaltung“ des HLfV für seinen kompromittierten Beamten war offenkundig, und ein leitender Polizist beschwerte sich Anfang Juli 2006 empört über Äußerungen von Verfassungsschützern wie „…wir haben es hier doch nur mit einem Tötungsdelikt zu tun…“. Um diese Rückendeckung zu brechen, stellte die Polizei umfangreiche schriftliche Strategie-Überlegungen an.
Das HLfV konnte sich mit seiner Taktik des Mauerns – am Ende unter partieller Opferung des Beamten Temme, der lange verteidigt worden war, dann aber doch aus dem Verfassungsschutz entfernt wurde – schließlich weitgehend durchsetzen, auch weil der hessische Innenminister Bouffier ihm den Rücken stärkte. Das bedeutete vor allem, dass die Polizei die von Temme geführten V-Personen nicht selbst vernehmen durfte, sondern nur Berichte vom HLfV darüber bekam, die besagten, es habe sich daraus nichts relevantes ergeben. Ob Bouffier damit aber, wie manche vermuten, einen großen LfV-NSU-Mord-Skandal vertuschen wollte oder nur das tat was er immer tat, lässt sich daraus nicht herleiten. Bouffier stand 2006 unter politischem Druck als Law-and-Order-Minister mit rechtlich zweifelhaften Methoden, nicht weit davon entfernt, selbst strafrechtlich verfolgt zu werden. Er hatte Grund genug, in seinem Laden die Schotten dicht zu halten und kein weiteres Material für Presseskandale zu liefern, und das bedeutet in solchen Fällen meistens: Mauern.
Was das LKA angeht, so ermittelte es, salopp gesagt, nicht gegen das HLfV wegen Weltverschwörung, sondern nur gegen Temme wegen Mordverdachts. Als hinreichend entlastende Indizien zu seiner Person vorlagen, waren die „dunklen Seiten“ seiner Persönlichkeit nicht mehr von Interesse. Als hinreichend entlastend wurden folgende Punkte angesehen:
- Die anfangs von einem Zeugen aufgestellte Behauptung, Temme habe eine Plastiktüte bei sich getragen, ließ sich nicht bestätigen.
- Der Ablauf des Geschehens im Internetcafé schien schlüssig.
- Für seine anfänglichen Lügen und Ausflüchte waren einigermaßen plausible Begründungen geliefert worden. Eine aktuelle rechtsextreme Haltung Temmes war nicht festzustellen und schied daher als Motiv aus.
- Für die anderen Mordfälle der Çeska-Serie hatte er nachweislich Alibis.
Es liegt auf der Hand, dass Temme auch ohne eine Verwicklung in den Mord „gute“ Gründe gehabt hatte, die Polizei zu täuschen. Er hielt sich vorschriftswidrig und unprofessionell in einem Internetcafé nahe einer Moschee auf, in der von ihm beobachtete Personen verkehrten. Er flirtete in einer Chat-Line, während seine Frau schwanger war. Er verheimlichte seiner Frau und seinen Eltern, dass er Waffen besaß und in einem Schützenverein schoss. Er bewahrte in seinem Dienstzimmer Pornohefte und, verbotenerweise, gelegentlich private Schusswaffen auf. Zuhause hatte er auch noch ein Stückchen Haschisch, natürlich angeblich nie probiert. Kurz, er war offensichtlich unreif und seiner Tätigkeit nicht gewachsen – was vermutlich auf einen Großteil der VS-MitarbeiterInnen zutrifft. Mit der polizeilichen Ermittlung drohte diese Blase der Selbstüberschätzung und Heimlichtuerei zu platzen, was ihm und auch den Kriminalbeamten rasch klar wurde; letztere bescheinigten Temme, sich selbst für intelligenter zu halten als er tatsächlich sei. Negative berufliche Folgen waren absehbar. All dies kann durchaus reichen, einen solchen „normalen Deutschen“ in Panik zu versetzen, mit den bekannten Folgen: Er redete sich ein, nicht der öffentlich gesuchte Zeuge des Mordfalls zu sein, und duckte sich weg in der Hoffnung, unidentifiziert zu bleiben. Bei seinem letzten Treffen mit seinem rechten V-Mann am 10.4.2006 zeigte er sich sehr nervös. Am 12.4.2006 kündigte er seinen verräterischen Flirt-Line-Account, was vermutlich der Spurenverwischung dienen sollte. Er wurde aber dennoch anhand der Verbindungsdaten aus dem Internetcafé ermittelt.
Ein solcher Ablauf des Geschehens mit all den darin enthaltenen Dummheiten und Fehlern ist an sich „lebensnah“. Einwenden ließe sich, dass die zentrale Frage, wie es sein konnte, dass Temme den am Boden liegenden Yozgat nicht sah, unbefriedigend erklärt ist. Rein spekulativ ließe sich unterstellen, dass Temme den Mann sehr wohl dort liegen sah und darum nur umso panischer reagierte, weil ihm dann ja sofort klar sein musste, dass ihm Ärger ins Haus stand und seine peinliche „dunkle Seite“ auffliegen würde. Dies einzugestehen, hätte ihm spätestens nach den ersten Vernehmungen ein Verfahren wegen unterlassener Hilfeleistung und Falschaussage eingebracht und damit wohl das Ende der Beamtenlaufbahn. Vielleicht ist das die kleine Lebenslüge, die Temmes Auftreten und Aussagen seit damals so halbseiden und unbefriedigend erscheinen lassen?
„Klein-Adolf“ forever?
Die Verbindung zu einem rechten V-Mann und Temmes eigene politische Haltung wurden nach Aufdeckung des NSU 2011 noch einmal Gegenstand der Ermittlungen, zuerst seitens Bundesanwaltschaft und BKA, später auch seitens der Medien. Bei der Durchsuchung in Temmes Zweitwohnung in seinem Elternhaus 2006 waren diverse teils verherrlichende Schriftstücke zur NS-Zeit gefunden worden, darunter auch von Temme selbst abgetippte Auszüge aus Hitlers „Mein Kampf“; und ein Zeuge hatte zudem ausgesagt, der jugendliche Temme habe etwa um 1983 herum im Heimatort Trendelburg-Deisel (nicht, wie oft fälschlich geschrieben, in Hofgeismar) den Spitznamen „Klein-Adolf“ gehabt. Es handelte sich mithin um Vorfälle, die über 20 Jahre zurücklagen. Die Polizei konnte 2006 weder durch Befragungen noch durch die Überwachung von Temme irgendwelche Hinweise auf aktuelle rechte politische Einstellung bzw. Aktivitäten gewinnen, und 2011/12 ergab sich kein anderes Bild. Er selbst, seine Frau und zumindest einer seiner Kollegen stellten rechte Ansichten ausdrücklich in Abrede. Temme gesteht ein, dass er in seiner Jugendzeit anfällig für rechtes Gedankengut gewesen sei, damit sei es aber nach Beginn seiner Ausbildung bei der Post vorbei gewesen.
Dennoch begann bereits am 15.11.2011 ein Rauschen im Pressewald, angeführt von Bild-Zeitung und FAZ: Temme sei „in seinem Heimatort (…) unter dem Spitznamen „Kleiner Adolf“ bekannt gewesen“. Kein Wort dazu, wie lange das zurücklag, oder dass die gefundenen Auszüge aus Hitlers „Mein Kampf“ Abschriften eines 16jährigen gewesen waren. Seitdem wird diese kurze Meldung, meist auch unter Verwendung des ungenauen Zitats („kleiner Adolf“ statt „Klein-Adolf“, was auf den Ursprung in dem FAZ-Artikel verweist), in diversen Medien weiterverbreitet. Doch all die kritischen BloggerInnen und investigativen JournalistInnen haben in den seither vergangenen 18 Monaten nicht ein einziges neues Indiz für Temmes politische Gesinnung von 2006 (oder 2012) beibringen können. Es ist durchaus nicht so, dass es gar keine Indizien gäbe, die einer Nachfrage wert sind. So ließe sich fragen, warum jemand derart peinliche Jugendwerke aufhebt; Temmes Begeisterung für Waffen und Combat-Schießen und seine nicht erschöpfenden Auskünfte bei der Polizei, wann genau er wo bei Schießübungen teilgenommen hat, lassen hellhörig werden; auch seine zeitweise Nähe zum Rockermilieu in Kassel wurde in den Ermittlungen nur oberflächlich gestreift. All das besagt wenig und beweist nichts. Doch in den Medien bleibt es beim „Kleinen Adolf“, der einfach von 1983 nach 2006 verlängert wird, damit die Story stimmt.
V-Mann 389 und die „129er-Liste“
Temme hatte Ende 2003 begonnen, V-Personen zu führen. Sein erster Fall war GP389, wobei GP für „Gewährsperson“ steht, eine noch nicht schriftlich verpflichtete Person. Erst Anfang 2006 wurde GP389 formell zum V-Mann ernannt.
GP389, Benjamin Gärtner, war seit etwa 2000 aktiv in der rechtsradikalen Szene in Kassel, wo sein Stiefbruder Christian Wenzel eine nicht unbedeutende Rolle in der Blood-and-Honour- und Kameradschaftsszene spielte. Gärtner, der wohl eher als Mitläufer auftrat, begann 2003 mit Absetzbewegungen aus der Szene, was das HLfV dazu bewegte, ihn als Zuträger anzusprechen. Da er sich aus der Skin- und Kameradschaftsszene nach eigenen Angaben zurückziehen wollte, wurde er auf die rechte Splittergruppe „Deutsche Partei“ aus dem Dunstkreis von DVU und REP angesetzt, die nahezu keine Aktivitäten (außer internen Streitereien) entfaltete. Aus der neonazistischen Szene berichtete er mehr vom Hörensagen aufgrund seiner fortbestehenden privaten Kontakte. Die Angaben von Rechten zur eigenen Position in der Szene sind an sich mit Vorsicht zu genießen, da diese oft die eigene Rolle kleinreden oder sich gar als „Aussteiger“ darstellen. Temmes Berichte über die Treffs – die der Polizei in Teilen übergeben wurden – waren aber doch recht kurz oder entfielen ganz mangels Informationen, auch Geld floss offenbar nur sehr wenig, was dafür spricht, dass Gärtner wirklich wenig zu liefern hatte. Temme selbst betrachtete eigenen Aussagen zufolge die Quelle als unwichtig und unergiebig; dass er Gärtner dennoch regelmäßig jeden Monat traf, mag auch daran liegen, dass er sonst nicht viel zu tun hatte, aber seine eigene Produktivität beweisen wollte. Neben Gärtner führte er noch 5 V-Personen, alle aus dem islamistischen Bereich.
Temme traf Gärtner einmal jeden Monat, meist in den ersten Tagen. Dazwischen gab es nach übereinstimmenden Aussagen von Temme und Gärtner nur kurze Telefonate, in denen es lediglich um Terminabsprachen ging. Am 6.4.2006 rief Gärtner um 13:06 Uhr Temme auf dem Mobiltelefon an, das Gespräch dauerte nur 17 Sekunden, vermutlich weil Temme sich gerade bei einem Treffen mit seinem V-Mann 650 befand. Da das monatliche Treffen bevorstand, war ein kurzer Telefonkontakt im Rahmen des Normalen. Später rief (höchstwahrscheinlich) Temme von seinem Büro aus dann bei Gärtner auf dem Mobiltelefon zurück. Dieses Telefonat von 16:10 Uhr war der Polizei 2006 nicht bekannt geworden und wurde von Temme in seinen Vernehmungen auch nicht erwähnt. Es dauerte rund 11 Minuten, also ganz unüblich lang. Nachdem es 2011 aufgedeckt wurde, konnten weder Temme noch Gärtner bei ihrer Nachvernehmung etwas dazu sagen. Temme sagte aus, weder für das Telefonat an sich noch für sein Verschweigen eine Erklärung zu haben, er sei „einigermaßen fassungslos“ darüber. Gärtner gab zu Protokoll, er sei sehr „verwundert“ darüber, dass er sich an ein so ungewöhnlich langes Gespräch nicht erinnern könne. Bei aller Bereitschaft, im Zweifelsfall die weniger dramatische Erklärung zu akzeptieren, bleibt dieses Telefonat doch eine ziemliche Gräte im Hals der Aufklärung.
Ob Gärtner eine bedeutsame Rolle in der unappetitlichen Kasseler rechtsradikalen Szene spielte oder auch nur wichtige Informationen von dort bekam, ist nicht aufgeklärt. Die Ermittlungsbehörden meinen, dem war nicht so. Sie messen ihm auch in Sachen NSU keinerlei Bedeutung zu.
Für Verwirrung sorgt hierbei eine Liste mit 129 Namen, zu denen im Rahmen des NSU-Komplexes Ermittlungen angestellt wurden. Viele Medien behaupten unverdrossen, es handele sich um eine Namensliste des „NSU-Netzwerks“ bzw. der „NSU-Unterstützer“, und daher sei auch Gärtner als NSU-nah einzustufen. Das ist aber falsch, tatsächlich ist es eine Aufstellung der Personen, die im Rahmen des Verfahrens irgendwie auffällig geworden sind und über die Informationen gesammelt wurden. In die Ermittlungen zum NSU ist Gärtner jedoch nur durch seine Verwicklung in den Fall Temme und damit in den Mordfall Yozgat geraten, weshalb sein Name auch nicht erst auf der „129er-Liste“, sondern bereits auf der allerersten Suchliste von 41 Namen vom November 2011 aufgeführt war. Ansonsten erscheint sein Name nirgends in den Querverbindungen rund um den NSU soweit bisher aktenkundig.
Die banale Wahrscheinlichkeit
Einmal unterstellt, all die genannten relativierenden Fakten wären durch Manipulationen und Fehler der Verschwörer zu erklären: Wie ließe sich die Anwesenheit Temmes am Tatort vor dem Hintergrund einer Mordverschwörung logisch erklären?
Welche praktische Rolle hätte er am Tatort spielen können? Keine. Dass er den Mord selbst beging, behauptet wohl niemand. Wenn er am Telefon Absprachen zur Tat getroffen hatte, war es nicht notwendig, vor Ort zu sein. Dass die Killer zuverlässig und gut ausgerüstet waren, hatten sie schon mehrfach bewiesen. Um sich mit ihnen zu treffen, war ein Mordschauplatz wohl der ungünstigste denkbare Ort. Soll er aus unprofessioneller Schaulust gekommen sein, um den Tätern beim Morden zuzusehen?
In dem Internetcafé befanden sich zur Tatzeit mehrere Personen die ihn sehen konnten, und Temme hinterließ in Form seines Chat-Logins dauerhafte Datenspuren, von denen er als Nachrichtendienstler genau wissen musste, dass sie nachverfolgbar waren. Er musste außerdem wissen, dass in Mordfällen ein erheblicher Ermittlungsapparat zu arbeiten beginnt, der nicht vollständig manipulierbar ist. Er müsste also entweder ein unglaublich dummer Mitverschwörer gewesen sein, oder es war ihm egal, dass er identifizierbar war. Beides passt nicht gut zu dem Ausmaß von Heimlichkeit, den diese monströse Verschwörung aufweisen musste, um so lange zu funktionieren.
Auch der Verlauf der Ermittlungen danach ist nicht ohne weiteres als reine Verdunkelungsaffäre zu bewerten. Die Ermittlungen der Polizei gegen Temme waren ernsthaft und gründlich, auch wenn sie Fehler enthalten haben mögen. Die Zuarbeit des HLfV war, wie beschrieben, in für den Verfassungsschutz typischer Weise gebremst und für die Polizei unbefriedigend, aber keine reine Vertuschung. Der Polizei wurden umfangreiche Unterlagen zur Verfügung gestellt, Kalender, Telefonnummern, die von Temme verwendeten geheimen Autokennzeichen… Wenn die Verschwörung so perfekt war, dass man diesen Informationsfluss genau unter Kontrolle hatte und sicher war, dass keine verräterischen Daten durchsickerten, wie passt dann wieder der dumme Temme mit seinem Auftritt am Tatort hinein? Andererseits, wenn das Ganze ein Durcheinander war und die Devise beim HLfV Schadensbegrenzung hieß, wie kommt es dann, dass all die umfangreichen Ermittlungen – zum Fall Temme wurden aus Hessen 37 Aktenordner übersandt – keinen Hinweis auf die Verschwörung erbrachten?
Wenn Temme kein aktiver Verschwörer war, sondern „nur“ Mitwisser des NSU – mutmaßlich durch seinen V-Mann -, dann war es dennoch unsinnig, sich während der Tat im Internetcafé aufzuhalten. Wenn es um die Identifizierung unbekannter oder ungewisser Täter ging, wären Observationskräfte rund um den Eingang aufgestellt worden, oder, wenn das zuviele Mitwisser gewesen wären, er selbst hätte draußen stehen müssen. Als erkennbarer Zeuge eines Mordes musste er immerhin damit rechnen, selbst auch angegriffen zu werden, wenn er sich den Tätern näherte. Falls es um eine Ansprache der Täter ging, hätte diese niemals in der direkten Mordsituation erfolgen können weil viel zu riskant, sondern wenn dann abgesetzt nach der ersten Flucht. Um lediglich zu wissen, ob die Tat wirklich erfolgt, wäre seine Anwesenheit ebenfalls nicht nötig gewesen. Welche weiteren Szenarios sind denkbar…?
Alles was Temme durch seine Anwesenheit ausrichten konnte – und das gelang ihm optimal -, war, in den Mordfall verstrickt zu werden und sich verdächtig zu machen. Ein schöner Verschwörer!
Die Legendenbildung
Für eine Verwicklung des Verfassungsschutzes in den Mord bzw. den Fall NSU insgesamt gibt der Fall Temme fast nichts her. Die Bemühungen gerade auch linker Medien, hier Verbindungen nachzuweisen oder zumindest zu unterstellen und damit eine Art „Kronzeugenfall“ für die staatliche Verstrickung aufzubauen, beruhen weitgehend auf Verallgemeinerungen und sachlichen Fehlern. Dazu gehören falsche Darstellungen wie:
- der Tresen-Schreibtisch in Yozgats Laden sei nach dem Mord „voller Blutspritzer“ gewesen
- ein Übersehen des liegenden Körpers hinter dem Schreibtisch sei „schier unmöglich“ gewesen
- die ominöse „129er-Liste“ sei eine Liste des „NSU-Netzwerks“
- Temme sei in dem Internetcafé im „operativen Einsatz“ gewesen
- Temme habe „sowohl vor als auch nach seinem Internetbesuch Telefonkontakt zu Neonazis“ gehabt
- der Mord an Halit Yozgat sei „zeitgleich“ mit bzw. „unmittelbar nach“ dem Telefonat zwischen Temme und Gärtner erfolgt
- die Ermittlungen gegen Temme seien wegen der offiziellen Verschleierung komplett „ins Leere gelaufen“ und deshalb eingestellt worden
- „taterhebliche Beweismittel“ seien beseitigt worden
- die Behörden hätten stets behauptet, Temme habe das Internetcafé kurz vor dem Mord verlassen
- das Abschirmen der von Temme geführten V-Leute vor der Polizei sei Beweis dafür, dass es eine Verwicklung in den Mord gebe (obwohl das beim VS immer so gemacht wird)
- die hessische Polizei habe mit dem HLfV kooperiert bei der Vertuschung
- Temme sei als Erwachsener rechtsradikal eingestellt, in seiner Wohnung seien „neonazistische Propaganda“ bzw. „Papiere neonazistischer Gruppen“ gefunden worden
- der Spitzname „Klein-Adolf“ sei für Temme aktuell verwendet worden in seinem Heimatort (und nicht 1983)
- Gärtner sei ein wichtiger Neonazi mit Zugang zu Blood-&-Honour-Internas gewesen
- es sei bewiesen, dass die Tatorte der NSU-Morde zuvor von lokalen Neonazis ausgespäht worden seien
Die Kombination all dieser Ungenauigkeiten und Fehler führt dazu, anhand des Falls Temme eine objektive Beweisbarkeit der Verschwörung zu behaupten, womöglich mit der Beschwichtigung, es werde zwar „keine geheimnisvolle Macht vermutet“ im Hintergrund, doch es sei „ganz nüchtern“ anhand „der vorliegenden Fakten“ zu zeigen, wie „staatliche Stellen das Licht ausschalten“, der NSU den „Escortservice des Verfassungsschutzes für Neonazis“ genutzt und unter dem „Schutz bestehender Institutionen“ gehandelt habe. Alle Zitate stammen aus dem Blog eines derzeit bei Linken sehr populären Autoren.
Dass alle Fragen zum Fall Temme beantwortet sind, lässt sich nicht behaupten. Verdachtsmomente gegen ihn bleiben bestehen: Seine jugendliche rechte „Phase“, seine persönliche Ausstattung mit Waffen und sein früheres Liebäugeln mit Rockerclubs lässt ihn zumindest als jemand erscheinen, dem im Profiling ein gewisse Anfälligkeit für die bei Rechtsradikalen verbreitete aggressive und tatkräftige „Männlichkeit“ zuzutrauen wäre. Sein Verschweigen des längeren Telefonats mit Gärtner kurze Zeit vor dem Mord wirft die Frage auf, worum es in diesem unüblichen Gespräch ging.
Die Akte über die mögliche Verwicklung Kasseler Neonazis in den Mord an Halit Yozgat kann ohnehin nicht geschlossen werden – zum Beispiel erfordern die Ermittlungen zu dem notorischen Neonazi Berndt Tödter und den Beschuldigungen gegen ihn eine ganz eigene Untersuchung, für die hier der Platz fehlt. Ein neues Kapitel…
(dieser Text wurde am 1.7.2013 von mir sehr geringfügig stilistisch überarbeitet – T.L.)
Danke für die Infos. Ich folge Ihnen in jedem Punkt, und einiges ist mir erst durch diese Analyse bekannt geworden.
Aber es bleibt ein wichtiger Gesichtspunkt unbesprochen:
Es gibt in Deutschland nicht allzuviele V-Leute des Verfassungsschutzes, und dass einer von ihnen genau zur Tatzeit eines der 9 Morde am Tatort war, ist ein so unglaublicher Zufall, dass ich stutze.
Nun könnte man sagen, ja mei, auch eine katholische Nonne hätte sich im Laden aufhalten können, davon gibt es auch nicht so viele …
Das liegt bei Temme und dem Verfassungsschutz anders. Wir haben den Verfassungsschutz ohnehin, also auch ohne den Fall Temme, im Verdacht, etwas gewusst zu haben – ich beziehe mich auf die Seltsamkeiten, die in Thüringen und Sachsen vorgefallen sind. Außerdem: So viele V-Leute im Umkreis des NSU – und keiner weiß was und merkt was und lässt was durchsickern? – Nun, nicht ausgeschlossen, aber nicht unbedingt wahrscheinlich.
Hinzu kommt: Es liegt in der Natur eines Geheimdienstes, dass er partiell unkontrolliert ein Eigenleben entfaltet, in das auch die politischen Kontrolleure keinen Einblick gewinnen. Ein Geheimdienst ist nicht glaubwürdig in seinen Aussagen über sich selbst. Soll ich zur Polizei mehr Vertrauen haben? – Da fällt mir die aktuell diskutierte Geschichte ein: „Bringen Sie nichts raus!“
Nimmt man das alles zusammen, dann sag ich mir: Es ist doch wahrscheinlich, dass Temme bzw. sein Arbeitgeber etwas mit der Sache zu tun hat. (Was genau – das weiß ich auch nicht.)
Natürlich ist es richtig, dass Temme sich dumm verhalten hat, dass er wohl auch kaum zur Tatzeit am Tatort sein sollte. WENN (wie ich vermute, aber nicht weiß) Temme was mit der Tat zu tun hatte, hat er Fehler über Fehler gemacht. Die Verschwörung – wenn es denn eine war – wäre also durch das unprofessionelle Verhalten eines Verfassungsschützers überhaupt erst sichtbar (oder besser: vermutbar) geworden.
Interessieren würde mich auch noch die Sache mit dem Kasseler Stadtplan.
Ich bin in der Tat von der Möglichkeit auch der unglaublichsten Zufälle überzeugt (ich könnte aus eigener Erfahrung einige Erlebnisse aufzählen, die Sie mir niemals glauben würden). Aber im Ernst:
– Die Ereignisse in Thüringen/Sachsen zwischen 1998 und 2003 betrachten wir aus heutiger Perspektive mit dem Wissen um den NSU. Das verändert das Bild erheblich. Seinerzeit war diese Verbindung ganz und gar nicht klar. Ich halte es durchaus für vorstellbar, dass VS-Behörden um 2000 herum mehr über das untergetauchte Trio wussten, als sie heute zugeben. Denn es gab ja tatsächlich etliche V-Leute im näheren Umfeld (wer weiß, welche wir noch gar nicht kennen). Doch das bedeutet nicht, dass die Morde des NSU von 2001 damit in Verbindung gebracht wurden. Denkbar ist z. B., dass man das Trio anfangs an der „langen Leine“ laufen ließ in der Hoffnung, Untergrundstrukturen aufzuklären, sich aber dumm anstellte und sie aus den Augen verlor. Oder das Interesse verlor, weil keine Untergrund-Organisation erkennbar wurde, sondern „nur“ das tägliche Durchwursteln von 3 Untergetauchten (nicht vergessen: Über die 3 Bescheid wissen heißt ja nicht, dass sie rund um die Uhr beobachtet wurden, sondern nur, dass der VS ein paar Sachen wußte, so viel wie die unzuverlässigen V-Leute eben erzählten). Denkbar ist ebenso, dass der VS das LKA abblockte, weil er die 3 selbst fangen wollte, und dabei versagte. Und denkbar ist auch, dass der VS zwar irgendwann mal wusste, wo das Trio sich aufhielt, daraus aber keine Konsequenzen zog, weil das z. B. einen V-Mann gefährdet hätte oder man die 3 für inaktiv/uninteressant hielt. Alle diese drei Möglichkeiten würden schon ausreichen, um 2011 massiv unter „Vertuschungszwang“ zu geraten, ohne dabei irgendwas vom NSU gewusst zu haben.
– Die aktuelle Sache in Thüringen („bringen Sie nichts raus“) halte ich für heiße Luft aus der Medien-Skandal-Turbine. Wenn man es genauer betrachtet, war es so, dass 1. der Fall ganz kurz vor der Verjährung stand, 2. die Fahndungsmaßnahmen (Zielfahndung etc.) schon seit Monaten eingestellt waren, 3. der fragliche Zeuge nicht allzu glaubwürdig war (so behauptete er z. B., Böhnhardt in genau so einem Auto gesehen zu haben, wie es dieser zwar 1997/1998 gehabt hatte, aber bei seiner Flucht nicht mitgenommen hatte – es wurde nachweislich verkauft). Dass in so einer Situation der Vorgesetzte sagt „fahrt mal da hin, aber überanstrengt euch nicht“, kann ich mir gut vorstellen.
– was Temme angeht, so fehlt nach wie vor eine schlüssige These dazu, was er denn als VSler mit NSU-Bezug am Tatort gemacht haben sollte. Mich hat bisher keine der Spekulationen überzeugt, das ist alles so „der VS ist irgendwie böse“ und „ich hab da so ein Gefühl“, das finde ich zu wenig. Übrigens was den Stadtplan angeht: http://www.lecorte.de/2013/10/nsu-fall-temme-und-die-kasseler-verkehrswege/
Wie wär’s mit folgender Spekulation:
Der Temme weiß (von Amts wegen oder weil ihm ein V-Mann oder wer immer was gesteckt hat), dass die Morde von einem gewissen NSU begangen wird, und dass jetzt demnächst in Kassel der Halit Yozgat dran ist. Das will er sich dann doch mal genauer anschauen … wenn auch nicht unbedingt dabei sein. Aber er hat Pech.
Oder: Es gibt eine Verfassungsschutzclique, die – von weiter oben beauftragt oder auch nicht – den NSU kennt und schätzt als Waffe gegen die Türkengefahr in Deutschland. Temme ist einer, der damit beauftragt wird, die Mörder zu beobachten und vorsichtig zu unterstützen. Dabei verhält er sich idiotisch. Er hat den Mördern selber u. a. den Laden von Halit Yozgat vorgeschlagen, u. a., und nicht mitgekriegt, dass sie genau um die gewisse Uhrzeit dort auftauchen werden. Blöd gelaufen!
Das sind nur mal zwei Vorschläge. Ich finde sie einerseits sehr spekulativ, aber andererseits nicht phantastischer und unglaublicher als die Anwesenheit eines Verfassungsschützers am Tatort zur Tatzeit.
Mein Punkt ist, ich wiederhole mich: Was ist wahrscheinlicher, ein krasser Zufall oder dass eben doch irgend ein tatbezogener Umstand vorliegt für diese Anwesenheit, was immer das für ein Umstand sein mag.
Ich glaube auch, dass es krasse Zufälle gibt. Aber ich sehe den Zufall Temme im Rahmen des Gesamtbildes, das ich mir mache. Wie viele Zufälle, Pleiten, Pech, Pannen werden uns in der Sache zugemutet? – Es ist zu viel. Mir ist es zu viel. Ich reagiere, indem ich sage: WAHRSCHEINLICHER ist es, dass es eben keine Zufälle sind.
Ihre Abwiegelung im BringenSienichtsraus-Fall verstehe ich nicht.
Ich gehe doch davon aus, dass die Polizei Untergetauchte (und Leute, die eine 1,4kg-Bombe gebastelt haben) bis zuletzt finden will, unbedingt finden will, auch wenn Jahre vergangen sind. Normalerweise.
Grade wenn die Zeit zur Verjährung abzulaufen droht, grade dann müsste man doch heiß hinterher sein.
Sicher, man hat da (vielleicht!) bei der Polizei ganz oben noch nicht gewusst, dass die Mordserie mit den Untergetauchten zu tun hatte. Aber untertauchende Kriminelle zu finden, das muss doch eine Obsession für die Polizei sein. Denn man darf annehmen, dass Untergetauchte ihren Lebensunterhalt durch weitere kriminelle Taten bestreiten.
Dazu kommt das seltsame Verhalten der Polizisten beim Prozess. Sie widersprechen dem Whistleblower nicht. Sie sagen nur, allesamt, dass sie sich nicht erinnern.
Also, da kriegen sie die Chance auf den Kontakt mit einem der wichtigsten Fahndungsobjekte Thüringens (auch ohne dass man was von Bankrauben und Morden was weiß, müssen untergetauchte Bombenbastler wichtig sein für die Polizei), und der Vorgesetzte winkt ab … Das hat haut gout. Das merkt man sich.
Die verschiedenen Überlegungen, wie Temme doch mit dem Mord in Verbindung stehen könnte, kenne ich und habe sie ja teils in meinem Artikel schon diskutiert. Bisher hat sich m. E. jede mögliche Version, wenn man sie logisch zu Ende durchspielt, als höchst unwahrscheinlich erwiesen. Deshalb bin ich der Überzeugung, dass auch hier das zutrifft, was meistens zutrifft, wenn die Sachlage verworren ist: Es wird zwar etwas vertuscht, aber nicht das, was Amateurdetektive wie ich oder du aufgrund unseres Halbwissens vermuten. Die Wahrheit ist vermutlich entweder banaler (eben: Temme sah die Leiche, und dann zog eine Lüge die nächste nach sich) oder anderswo (z.B.: Temme/HLfV hatten eine ganz andere Sache zu laufen, ohne NSU-Bezug, die sie geheimhalten wollten und wollen) angesiedelt.
Was das Fahnden nach Untergetauchten angeht, habe ich eine andere Ansicht und andere Erfahrungen. Weder war die Menge TNT für die Polizei erschreckend groß (es war übrigens auf 3 Einzelbomben verteilt), noch ging es um ein eindeutiges Organisationsdelikt (kein §129a-Fall). Auch will die Polizei Untergetauchte zwar gerne finden, hat aber auch anderes zu tun. Und wenn die Verjährung bevorsteht, ist man nicht etwa besonders „heiß hinterher“, sondern lässt die Sache eher schleifen, weil es genug aktuelle Fälle gibt. 2003 suchte man aus Sicht der Behörden eben nicht nach einer mordenden Terrorzelle, sondern nach 3 rechten Spinnern, die – wie so viele Rechte – sich ein wenig bewaffnet hatten.
Im übrigen scheinen mir sowohl TLfV als auch TLKA ein Intrigantenstadl zu sein, wo einer den anderen reinlegt und anschwärzt.
Wir dürfen nicht den Fehler machen, uns Behörden als monolithischen Apparat vorzustellen, der durchweg logisch und planvoll handelt.
Ein paar ergänzende Details auf Nachfragen von Klaus Klein:
* Einwand: „Für die Taten 1 (9. September 2000) und 6 (9. Juni 2005) lagen mögliche Alibis vor.–(S.622) Also gerade mal für zwei, und Temme hat demnach nicht mal ein Alibi für den Mord in Dortmund zwei Tage zuvor… Wenn sie schreiben Temme hätte Alibis, und der UA kam nicht zu dem Schluss, dann sind ihre Angaben aus Maschinensicht verwirrend, denn es ist ja nicht klar wie sie zu diesem Schluss kommen.“
Antwort: Die Frage von Alibis des Temme ist ja eigentlich nur wirklich wichtig, wenn man von einer direkten Tatbeteiligung ausgeht, was ich für eine absurde und nicht diskutierenswerte Annahme halte. Wenn er hingegen ein Mitwisser/Unterstützer war, brauchte er nicht an den Tatorten zu sein und die Alibifrage erübrigt sich. Aber sei’s drum:
Der Untersuchungsausschuss des Bundestages (BT-UA) hat die Ermittlungen der Polizei von 2006 beurteilt und keine eigenen Nachforschungen dazu angestellt. Die Polizei hatte allerdings, anders als vom BT-UA geschrieben, für 3 Morde Alibis akzeptiert, nämlich auch für den Mordfall 5 (25.2.2004, Rostock), da Temme an diesem Tag in Kassel LfV-Dienst tat. Ein paar Wochen nach diesem Vermerk beschäftigte sich die Polizei aber im Juli 2006 noch einmal gründlicher mit den Alibis, was der BT-UA scheinbar nicht (hinreichend) ausermittelt oder zu unwichtig für seinen Bericht fand.
Im Jahr 2001, in das drei Morde fallen (Nürnberg, Hamburg, München) machte Temme ein Praktikum beim Regierungspräsidium Kassel in Vorbereitung auf seine zukünftigte LfV-Karriere. Die Morde fanden jeweils wochentags während der Arbeitszeit statt. Es gab 2006 keine Anwesenheitslisten oder drgl. mehr, die die Polizei hätte überprüfen können. Temmes eigener privater Kalender enthielt aber Angaben zu diesen Zeiträumen, die seine Anwesenheit in Kassel zumindest plausibel erscheinen lassen (z. B. Anwesenheit unter Zeugen bei einem Grillfest, einer Sitzung…), wenn auch nicht im juristischen Sinne wasserdicht.
Am Tag des 7. Mordes (München, 15.6.2005) traf sich Temme mit dem V-Mann 650 (Islamismus) im Raum Kassel und fuhr abends zu seiner späteren Frau.
Am Tag des 8. Mordes (Dortmund, 4.4.2006, Tatzeit 13:10) traf Temme sich mittags mit VM 6623 im Raum Kassel, außerdem lagen seine Stechuhr-Zeiten vom LfV Kassel vor, und aufgrund der Kürze der verstrichenen Zeit war Temmes Anwesenheit in Kassel überprüfbar.
Natürlich kann theoretisch jemand auch während oder nach der Arbeit sich wegschleichen und kurz mal ein paar hundert Kilometer weit fahren um schnell einen Mord zu begehen. Jedenfalls in billigen Krimis, vom Sofa aus betrachtet. Aber besonders lebensnah ist das nicht. Ich finde, es sind hinreichend Anhaltspunkte gegeben – auch wenn sie wohl nicht „ausermittelt“ wurden mangels dringenden Tatverdachts und insofern meine Formulierung von „nachweislich“ juristisch nicht ganz sauber war – um eine Anwesenheit Temmes bei fast allen Morden für mindestens unwahrscheinlich, wenn nicht ausgeschlossen zu halten.
* Einwand: „Um 17:01:02 soll der Zeuge S. die Knallgeräusche gehört haben, während der Pin-Eingabe.“
Antwort: Nicht richtig. Der Zeuge S. telefonierte 2x und hörte währenddessen irgendwann nach 16:54 Uhr das Knallgeräusch. Um 17:01 begann das zweite Telefonat einer anderen Person, der Zeugin C.
* Einwand: VM 389 (Benjamin Gärtner) sei unterschätzt.
Antwort: Benjamin Gärtner war definitiv eine unwichtige Figur in der Kasseler rechten Szene, da beißt die Maus keinen Faden ab. Erkenntnisse sowohl der Polizei als auch der Antifa-Recherche.
* Einwand: „In T.s Büro fanden sich Bücher…“
Antwort: Das alte NS-Schrifttum befand sich nicht in Temmes Büro, wie die „Stuttgarter Nachrichten“ unrichtig behaupten, sondern in einem Arbeitsraum in der Wohnung seiner Eltern (den die Polizei als „Büro“ beschrieb). Hieraus lässt sich also kein aktueller Bezug zur Gegenwart herstellen, es war altes Zeug aus der Pubertät – auch wenn die Tatsache, dass Temme den Müll aufhob, daran zweifeln lässt, ob er wirklich so völlig immun gegen rechte Tendenzen ist wie er sich heute gibt.
Das Treffen mit VP 650 soll beim 8.Mord gewesen sein, nicht beim 7.. Den hat das LfV ja selbst vernommen. Wenn man sich mal die Vernehmung von Benjamin G. vor Gericht ansieht( auch wenn er als Informant unwichtig war, für Temme und den VS ist er es offensichtlich nicht), und wie da RA Volker Hoffmann auf den einwirkt, wie wird es dann aussehen wenn der VS gleich selbst eine VP verhört ? Aber abgesehen davon ist es natürlich ein Alibi, obwohl der VS hier ein Geheimnis durch ein anderes ersetzt, denn in die Karten sehen lässt er sich ja nicht. Zu einer VP6623 kann ich nichts finden. Und zu dem Stechuhr-Alibi auch nicht, davon müsste der PUA ja eigentlich schon erfahren haben, der VS dürfte froh gewesen sein das mitteilen zu können, endlich mal ein Alibi das nicht mit dem Quellenschutz kollidiert.
Daher wundert es mich das sie von der Richtigkeit dieser Angaben überzeugt sind.
Zur Uhrzeit 17:01:02, das sollte eigentlich das Ende des ersten oder der Anfang des zweiten Gesprächs von S. sein :
“ Sh. habe die Geräusche spätestens bei der zweiten PIN-Eingabe gehört, er, Bi., meine, das sei um 17.01 Uhr gewesen. “
http://www.nsu-watch.info/2013/10/protokoll-40-verhandlungstag-30-sept-2013/
“ Kurz bevor er um 17.01 Uhr und zwei Sekunden auflegte, hörte er einen Knall und dann noch einen. “
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-87997161.html
Das die „Mein Kampf“-Abschrift bei den Eltern gefunden wurde war seit zwei Jahren bekannt, daher gehe ich nicht davon aus das dies mit dem Büro-Fund durcheinandergeraten ist. Wissen sie das genau ?
1. Was Temmes Alibis angeht: Nach meinen Informationen traf Temme am Tag des 7. Mordes VM 650, am Tag des 8. Mordes VM 6623 und am Tag des 9. Mordes (Kassel) VM 6625.
2. Telefonate: Ja, stimmt, da muss ich nachbessern. 17:01:02 Uhr ist das Ende des ersten Gesprächs von Sh., allerdings gibt es hier einigen Interpretationsspielraum. Denn Sh. meinte, die Knallgeräusche gleich zu Beginn seines ersten Telefonats (16:54) gehört zu haben, zu diesem Zeitpunkt war aber Yozgat noch am Leben. Sh. meinte, es sei aber doch wohl während seines ersten Telefonats gewesen, das wäre dann zwischen 16:55 und 17:01 gewesen. So oder so hörte er die Geräusche, bevor Temme sich ausloggte. Die Aussage von KHK Bi. könnte eine Interpretation sein: Da Sh. die Knallgeräusche mit der Eingabe einer PIN bei Gesprächsbeginn in Verbindung brachte, nach der ersten PIN-Eingabe aber Yozgat noch lebte, könne es vielleicht die zweite PIN-Eingabe gewesen sein… aber das ist halt eine Spekulation auf Basis der ungenauen Erinnerung des Zeugen, der das schon am selben Abend des 6.4.2006 nicht mehr genau wusste (wobei seine Nervosität verständlich ist, denn die Polizei behandelte ihn anfangs als Beschuldigten).
3. Büro-Fund: Ja, es ist so wie von mir beschrieben.
Also, erstmal danke für die Antworten.
1. Es ist kryptisch, werde einer draus schlau. Im UA-Bericht steht dazu :
“ Vernehmung der VM´s, insbesondere VM 650, der sich am 06.04.06 mit Herrn Temme getroffen hat …Hat sich Herr Temme auch am 04.04.06 mit einer VM getroffen? …Das LfV befragte einige der von Andreas Temme geführten Quellen und beantwortete die Fragen der Polizei mit Schreiben vom 8. Mai 2006. Mit Schreiben vom 6. Juni 2006 teilte das LfV der Polizei ergänzend das Ergebnis einer Befragung der VP aus dem islamistischen Bereich mit, mit der sich Andreas Temme am Tattag getroffen habe, wobei Ort und Umstände eines Treffens von 11 bis 13 Uhr in Kassel beschrieben werden. „(S.624)
Das scheint ja soweit nicht mit ihren Angaben zusammenzupassen, VM650 müsste hier entweder bei Mord Nr.9 oder sowohl 8 und 9 in Erscheinung getreten sein. Falls danach irgendwas umgeschrieben wurde müsste es hier geschehen sein :
“ Mit Schreiben vom 9. Januar 2007 übermittelte das LfV dem PP Nordhessen eine Zusammenfassung der Befragungsergebnisse. Die von Temme geführten Quellen machten Angaben zu Dauer und Ablauf der VP-Führung durch ihn sowie zu Kontakten und Treffen mit Temme an den Tattagen der Mordserie. „(S.631)
Konkrete Angaben gibts keine. Das Treffen mit VP650 zum 7. Mord, dem an Boulgarides, taucht da lediglich in Form eines Telefonats auf, aber mit GP389( Benjamin G. ):
“ Mögliche Telefonate vom 9. und 15. Juni 2005 (weitere Tattage) wurden in dieser Vernehmung nicht thematisiert. „(S.631)
Vielleicht habe ich ja was übersehen, aber so ganz geheuer ist mir das nicht.
3. Im UA-Bericht werden die Funde da nur sehr allgemein erwähnt(S.622), handelt es sich dabei auch um Abschriften ?
ANTWORT LECORTE: Zu 1., die Sache ist in der Tat verwirrend, lässt sich aber aufklären.
Der BT-UA zitiert auf S.624 einen Vermerk der hessischen Polizei von Ende April 2006. Zu diesem Zeitpunkt lautete die Angabe des LfV tatsächlich, Temme habe sich am 6.4.2006 mit VM 650 getroffen. Das LfV korrigierte diese Darstellung aber bereits Anfang Mai 2006 dahingehend, man habe sich geirrt, es sei tatsächlich VM 6625 getroffen worden, während der Treff mit VM 650 am 5.4.2006 stattgefunden habe. Diese Verwechslung scheint sich noch eine Weile durch die polizeilichen Ermittlungen geschleppt zu haben. Auch der Treff Temmes mit VM 6623 am 4.4.2006 wurde vom LfV der Polizei bereits im Mai 2006 mitgeteilt. Der UA hat leider hier nicht zur Aufklärung beigetragen, da er nach dem genannten Zitat im folgenden die Nummern der V-Leute gar nicht mehr erwähnt hat.
Die Angaben zum Treff mit VM 650 am 15.6.2006 beruhen auf Temmes eigenen Aussagen aus Vernehmungen im Sommer 2006. Mir scheinen sie glaubwürdig, da er mit einer Überprüfung durch die Polizei anhand von Dienstplänen, Treffberichten etc. rechnen musste.
Zu 2., soweit es mir bekannt ist waren alle gefundenen NS-historischen Texte mit der Schreibmaschine aus Büchern abgeschrieben. Temme selbst gab an, er habe sie mit 13-14 Jahren aus Büchern aus der Bücherei abgeschrieben. Das Zitat aus dem Bericht des BT-UA ist insofern wörtlich zu nehmen: „diese Schriftstücke“ meint „alle Schriftstücke“.
1 : Eine klassische Dreifachpanne also ! Das Alibi zum 6. Mord haben sie nicht dabei, ist das auch im Mai ’06 verrutscht ? Blieben also der Kneipen-Zeuge aus dem verhunzten Bürofund-Artikel, und die Angaben im stern Temme habe sich am 10. mit Staatsschützern getroffen und Angaben zum Mord gemacht, nicht als Verdächtiger sondern um zu informieren. Dazu passende Angaben soll T. auch vor Gericht gemacht haben „Drei Tage nach dem Mord las T. laut eigenen Angaben in einer Zeitung von dem Fall. Am Montag darauf, als T. bereits im Visier der Ermittler war, befragte ihn eine Kollegin zu seinem Wissen.“ http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2013-12/nsu-prozess-andreas-t Demnach wäre Temme erstmal mit dem Fall beschäftigt gewesen.
Noch ein Einwand : wenn Temme sich zur Seite gelehnt hätte, dann hätte er doch durch die Tür sehen können…
Auf die Gefahr hin sie zu bedrängen, vielleicht können sie etwas mit den Angaben zu Heilbronn anfangen ? Laut UA-Bericht(S.647) ist das Wohnmobil nach der Tat in Oberstenfeld südlich von Heilbronn kontrolliert worden, laut einem Artikel der sich auf Ermittler-Akten beruft war die Kontrolle hingegen nördlich von Heilbronn http://lichtstadt.blogspot.de/2012/08/inside-nsu-details-aus-der-anklage-was_13.html . Der Vermieter des Wohnmobils erklärt am 54. Verhandlungstag er sei an dem Mord-Tag mit seinem Vater nach Heilbronn gefahren um ein anderes Wohnmobil anzusehen, im besagten Artikel hingegen hat er es selbst dort abgeholt, nachdem dies bei der Kontrolle gewendet hatte und dann in der Innenstadt geparkt wurde. Die Angaben wären für eine Verwechslung recht detailliert. Merkwürdig in dem Zusammenhang : „Einige Datensätze seien „komplett“ verschwunden, etwa die Zulieferung der Polizeidirektion Böblingen, deren Beamte am Tag des Mordes zehn Kontrollposten besetzt hatten.“ http://www.focus.de/politik/deutschland/nazi-terror/report-im-pappkarton-begraben_aid_755331.html Könnte es sein das die den nördlichen oder beide Kontrollposten belegt hatten ?
ANTWORT LECORTE: Bitte nicht vergessen, der BT-UA hatte den Arbeitsauftrag, Fehler der Behörden zu untersuchen, nicht, den gesamten NSU-Fall aufzuklären. Die Frage von Temmes Alibis wird im Abschlußbericht nur gestreift, ob das daran lag, dass es zu weit ins Detail gegangen wäre oder man die Sache für hinreichend geklärt hielt, weiß ich nicht (vermute aber letzteres).
Der von Ihnen erwähnte Artikel aus der Stuttgarter Nachrichten scheint mir eine wacklige Sache, wegen der darin enthaltenen Fehler und weil viele Aussagen über angeblich irgendwo gesehene NSUler kursieren, zumeist von Wichtigtuern.
Was die Geschichte in „stern“ und „zeit“ angeht, bitte etwas genauer lesen. Im „stern“ steht NICHT, „Temme habe sich am 10. mit Staatsschützern getroffen und Angaben zum Mord gemacht“, sondern lediglich, dass er am 10.4. eine Anweisung aus Wiesbaden bekommen habe, mit der Polizei Kontakt aufzunehmen. Ausserdem erklärt die „stern“-Meldung wiederum die „zeit“-Meldung, denn es war wirklich so, dass die Polizei bereits am Montag nach dem Mord (10.4.2006) wusste, dass dieser mit der Ceska 83 begangen worden war und somit zu der Mordserie gehörte, und es ist wohl anzunehmen, dass das HLfV nicht erst zwei Wochen später aus der Presse darüber informiert wurde, insofern ist auch ein Wissen Temmes darüber am mutmaßlich 17.4. nicht verwunderlich und bedeutet noch lange nicht, dass er, wie Sie schreiben, „mit dem Fall beschäftigt“ war.
Die (angeblichen) Vermerke zur Befragung von LfV-KollegInnen Temmes kenne ich nicht, finde es aber auffällig, dass der „stern“ zwar aus dem Protokoll des Gesprächs mit Herrn H. vom LfV zitiert, nicht aber aus diesen angeblich so brisanten Vermerken. Das ist m. E. ein Indiz dafür, dass dem „stern“ solche Vermerke nicht vorliegen, sondern hier bestenfalls vom Hörensagen berichtet wird. Vielleicht handelt es sich ja auch um eine Vermischung oder Verwechslung mit einer tatsächlich am 10.4.2006 stattgefundenen Besprechung beim PolPräs in Kassel, bei der die zentralen Ermittlungen des Wiesbadener BKA („Ermittlungsgruppe Ceska“) mit der Polizei im Fall Yozgat koordiniert werden sollten? Allerdings war daran soweit mir bekannt keine Teilnahme des HLfV vorgesehen, und wenn Temme dort als Vertreter erschienen wäre, wäre das den ermittelnden Polizisten als sie ihn bald danach festnahmen wohl erwähnenswert erschienen. Übrigens war beim LfV in Kassel bereits Ende März 2006 die Ceska-Mordserie Thema, da intern die Frage diskutiert wurde, ob irgendein V-Mann dazu Informationen liefern könnte (wobei da noch in Richtung Migranten-Szene gedacht wurde). Insofern war das kein völlig unbekanntes Thema für Temme. Im übrigen billige ich auch dem „stern“ keine hohe Seriösität in der Berichterstattung zu – zuviele Falschmeldungen.
Zu dem Einwand „Tür / zur Seite lehnen“: Das halte ich für abwegig. Temme hätte von seinem Platz aufstehen und mehrere Schritte zur Seite treten müssen, und selbst dann wäre der Blick durch die Bauweise bedingt sehr eingeschränkt gewesen (es handelte sich nicht um eine einzelne Tür, sondern um zwei über Eck versetzte Durchgänge, vgl. ungenaue Skizze in http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-87997161.html)
Mir scheinen diese „wenns“ und „hätte“ doch durch die Bank sehr kurzbeinig zu sein.
Zu Heilbronn: Ich habe mir diesen Fall noch nicht im Detail angesehen. Ich kann aber jetzt schon sagen, dass die Darstellung in dem Blog „Lichtstadt“ Blödsinn ist und lediglich frühere Hypothesen der Polizei als Tatsachen darstellt, obwohl diese zwischenzeitlich ad acta gelegt wurden.
Aus Anlass zweier Kommentare von „Rudi“, in denen fast nur falsche Behauptungen aufgestellt werden und die ich deshalb nicht freischalte, eine kleine Ergänzung:
Im Internet geistert seit langem die Behauptung herum, Temme sei bei mehreren NSU-Morden in Tatortnähe gewesen. Woher diese Geschichte stammt, kann ich nicht aufklären. Tatsache ist, dass zumindest die Polizei keine derartigen Erkenntnisse hat. Die unkooperative Haltung des LfV Hessen hat es zwar in einigen Fällen unmöglich gemacht, Temmes Alibis genau zu überprüfen. Es gibt aber zumindest für die Mordfälle 1, 5, 6, 7 und 8 ansatzweise Alibis, d.h. Indizien, die eine Anwesenheit Temmes an den Tatorten mit großer Wahrscheinlichkeit ausschließen (z.B.: Nutzung seiner EC-Karte in Kassel zur Tatzeit, Teilnahme an einem Lehrgangnin Köln, Treffen mit einem V-Mann zur Tatzeit, etc.). Lediglich zu den Mordfällen 2-4 (im Jahr 2001) gibt es keine Daten. Daraus ist m. E. nichts Belastendes abzuleiten.
Möglichkeit eins: Temme lügt nicht. Mal in Zeitlupe, – der Mann ist ziemlich groß. Er loggt sich aus (eine Sekunde). Er geht zum Tresen in den vorderen Raum (10 sek), schaut sich dort um (2sek). Er geht zur Ladentür (6sek), dann steht er nach insgesamt 20 Sekunden vor dem Laden. Schaut nach links (2sek), zur gegenüberliegenden Straßenseite (3 sek), dann nach rechts (2 sek) und geht dann wieder hinein zum Tresen (8 sek). Kramt ein 50 Centstück raus (1 sek), legt es auf den Tresen (1sek). Wirft noch einen Blick zum hinteren Raum (2sek) und geht wieder zum Ausgang (6sek) und verlässt das Internetcafé (2sek). Er geht rechts entlang zur nächsten Ecke (15 sek) und biegt dann nach Rechts ab. Er ist aus dem Sichtfeld des Cafés verschwunden. Das alles kann durchaus in einer guten Minute passiert sein. Zu 106 Sekunden wäre noch mehr als eine halbe Minute Luft. Wenn er gehetzt wäre, hätte er sogar weniger Zeit brauchen können.
Möglichkeit zwei: Temme lügt. Entweder auf die hier nachvollziehbar dargelegte Weise, oder es gab doch einen dienstlichen Grund für seine Anwesenheit. Er nahm den einzigen PC Platz ein, von dem aus man die Tür sehen konnte. Er konnte beobachten, wer das Café betritt. Eine Verstrickung in eine Nazimordverschwörung halte ich für hahnebüchenen Unsinn. Wenn seine Dienststelle aber einen Hinweis bekommen hatte, dass dort zu dieser Zeit „etwas passieren“ könne, könnte er dem nachgegangen sein, ohne genau zu wissen, was ihn erwartete. Oder er war darauf vorbereitet und hielt es fest. Es gab ja 2011 schon viel zitierte Spiegel Artikel von Conny Neumann und Andreas Ulrich, in denen ein dubioser türkischer Informant von so etwas sprach. Auch von Festnahmen im Nachgang des Ereignisses war dort die Rede. Kamen nicht die meisten von Temmes Betreuten aus der islamistischen Szene? Tobte nicht ein Machtkampf inerhalb der türkischen Dienste zwischen den „Neuen“, die Erdogan treu waren und den alten Kemalisten, die man abservieren wollte? Fest steht jedenfalls, dass die Ceska-Morde damit endeten. Vielleicht hat Temme einfach nur seinen Job gemacht.
Hierzu ein paar Einwände:
1. Das Berechnen von Sekunden vom Schreibtisch aus ist natürlich sehr spekulativ, denn schon ein Flüchtigkeitsfehler der Polizei bei der Auswertung der PC-Log-Daten verändert alles (und das die Polizei mindestens viele Fehler macht, dürfte unstrittig sein
. Es ist z.B. zu fragen, ob überprüft wurde, ob die Zeiteinstellungen der einzelnen PCs im Laden genau synchron waren(das wurde überprüft!)). Aber sei’s drum, in den ominösen 106 Sekunden musste sich auch noch der komplette Mord ereignen und die Mörder wieder aus dem Laden verschwunden sein bevor der Zeuge Sh. die Telefonkabine verließ. Und wenn es so war, wo war denn dann Halit Yozgat als Temme ihn suchte? Hat er sich unter dem Tisch versteckt? Da halte ich es mit Ockhams Rasiermesser und sage, es ist lebensnäher, dass es sich um eine Schutzbehauptung handelte, in der Hoffnung damit aus dem Visier der Ermittler zu kommen.2. Von Temmes Sitzplatz aus war die Ladentür NICHT zu sehen. Es gab nur einen PC-Platz in dem Laden, der einen beschränkten Blick auf die Eingangstür erlaubte (Platz 5), und der war nicht belegt. Temme konnte nicht sehen, wer den Laden betritt.
3. Es gab über die Jahre diverse Erzählungen von „Informanten“ über angebliche Hintergründe der Mordserie, wahlweise wurde türkischer Geheimdienst, Mafia, Drogenbanden angeboten (allerdings meines Wissens nicht Islamisten). Die dabei genannten Details, wie sie z.B. 20011 im Spiegel standen, haben sich als falsch erwiesen. Wo soll da die Verbindung zum NSU-Mord sein?
4. Wenn Temme als Beobachter im Cafe sitzt, wieso chattet er dann anstatt aufzupassen?
Grundsätzlich halte ich es durchaus für denkbar, dass Temme in irgendeiner Weise dienstlich tätig war und das ganze Herumdrucksen des HLfV dazu dient, irgendetwas anderes – ohne Bezug zum NSU – abzudecken. Nur mal als Beispiel: Das Internet-Café war nicht weit von einer Moschee mit HLfV-„Klientel“ entfernt, Temme könnte sich ja dort als unauffälliger Stammkunde etabliert haben, um Besucher festzustellen oder andere Überachungsmaßnahmen vorzubereiten. Aber das ist reine Spekulation und hilft in Sachen NSU auch nicht weiter.
Ergänzung 21.07.2013: Noch ein paar Anmerkungen aufgrund eines neuerlichen Kommentars von Cassandra, den ich nicht veröffentliche, da er ganz überwiegend falsche Darstellungen und abwegige Spekulationen enthält. Da Cassandra sich stark auf SPIEGEL-Artikel bezieht, hierzu nur dies: Es gibt schlechtere Quellen als den SPIEGEL, aber das heisst noch lange nicht, dass dort alles gut recherchiert und/oder glaubwürdig ist. Die beiden Artikel von 2011 „Düstere Parallelwelt“ (SPIEGEL 8/2011) und „Versteck in der Schweiz“ (SPIEGEL 34/2011) sind Beispiele für Boulevarjournalismus im Nachrichten-Stil, die den beiden AutorInnen hoffentlich heute einigermaßen peinlich sind. Die Vermischung der Ceska-Mord-Serie mit Drogenhandel, türkischen Faschisten und Ergenekon-Verschwörung klang damals sicher nach einer tollen Story (und dann vergisst man ja gerne auch mal die Gegenrecherche), wurde aber spätestens mit dem Auffliegen des NSU als eine Räuberpistole entlarvt, mit der einzelne „Informanten“ Geld und Aufmerksamkeit suchten. Die Polizei hatte die Geschichten schon zuvor nicht geglaubt und lag damit offensichtlich ausnahmsweise einmal richtig.
Der Artikel „10 Minuten, 44 Sekunden“ (SPIEGEL 36/2012) ist insgesamt solide recherchiert – bzw. basiert auf den Ermittlungsakten der Polizei -, enthält aber ein paar Fehler, von denen einer sehr erheblich ist. Dies betrifft die vom SPIEGEL präsentierte Skizze der Tatörtlichkeit in Kassel. Wer nicht so genau hinguckt, könnte meinen, dass Temme von seinem Sitzplatz aus einen kleinen Bereich des Eingangsraumes des Internet-Cafés (und damit vielleicht die eintretenden Mörder) sehen konnte. Das ist falsch. Schon die Zuhilfenahme eines Lineals zeigt, dass selbst auf dieser nicht hundertprozentig akkuraten Skizze von Temmes Platz nur der Türrahmen der inneren Tür zu sehen war. Die Polizei hat dies sehr genau rekonstruiert und den Blickwinkel vermessen. Dessen ungeachtet schreibt der SPIEGEL wahrheitswidrig: „Von seinem Platz hatte er durch die offenen Türen einen Ausschnitt des Eingangsbereichs sehen können.“ Also noch einmal, definitiv: Temme konnte von seinem PC-Platz aus NICHTS von dem sehen, was im vorderen Raum geschah.
Cassandra fügt einen Fehler hinzu, wonach auf der Skizze „nicht der Standort aller Zeugen eingezeichnet“ sei und „sich in den Medien unterschiedliche Darstellungen dazu finden, wie viele es gab“. Ob irgendwelche Medien irgendetwas widersprüchliches behauptet haben, mag wohl sein, aber bezüglich der ZeugInnen liegt der SPIEGEL mit der Skizze richtig, es sind alle sechs Personen eingezeichnet (drei Erwachsene, zwei Jugendliche, ein Kind). Es gibt diesbezüglich keine Unklarheiten. Die einzige mögliche Ungenauigkeit besteht darin, dass der arabische Name des Mannes, der in der vorderen Telefonkabine stand, nicht immer genau gleich geschrieben wurde (Faiz H. bzw. Faiz H.-S.).
Des weiteren behauptet Cassandra, es habe in dem Internet-Café „Überwachungskameras in allen Räumen“ gegeben. Das steht nicht einmal im SPIEGEL und ist offensichtlich frei erfunden. Es gab keine solchen Kameras. (Ergänzung: Die Geschichte mit den Kameras geht auf einen Beitrag in „Frontal 21“ (ZDF) vom 27.06.2012 zurück, der neben etlichen sachlichen Fehlern auch nachgestellte Video-Aufnahmen vom „Tatort“ enthält, die den Eindruck einer Überwachungskamera erwecken sollen. Ein echter Tiefpunkt des „investigativen Journalismus“…)
Wow. Wie leicht ein paar veränderte Fakten ein völlig anderes Gesamtbild ergeben.
Danke für die gute Recherche.