Meine zumeist recht kritischen Kommentare zur Behandlung des NSU-Falles haben vor allem zwei Gründe. Der eine wird in dem Kommentar „Dunkle Mächte“ dargelegt, der andere ist praktischerer Natur: Indem viel Energie darauf verwendet wird, kalten oder fragwürdigen Spuren nachzugehen, werden andere vernachlässigt, die mir wichtiger erscheinen. Dazu gehört die Frage, wer genau die Personen in der rechten Szene waren, die den NSU konkret unterstützten und wer diejenigen sind, die in seine Fußstapfen treten könnten. Denn so schlimm die Morde des NSU waren, scheint mir doch eine ganz zentrale Frage zu sein, wie sich die im Zuge des Skandals hochquellenden Informationen nutzen lassen, um eine Wiederholung zu verhindern. Dass es naiv wäre, sich dabei auf staatliche Behörden zu verlassen, darüber sind Skeptiker wie ich wohl einig mit denen, die nach Verschwörungen suchen.
Ein „Flagschiff“ in der Diskussion um Unstimmigkeiten und mögliche Verschwörungen rund um den NSU ist der Fall Temme, also die mögliche Verwicklung eines Beamten des hessischen Verfassungsschutzes (HLfV) oder gar des Amtes selbst in den Mord an Halit Yozgat am 6.4.2006 in Kassel. Ich will diesen Fall deshalb hier exemplarisch genauer untersuchen.
In zahlreichen Medien, von linken Blogs bis hin zu liberalen Tageszeitungen, wird der Fall so zusammengefasst: Andreas Temme, V-Mann-Führer beim HLfV, war während des Mordes in dem Internetcafé anwesend. Er meldete sich aber nicht als Zeuge bei der Polizei. Er führte einen V-Mann in der Neonazi-Szene, mit dem er kurz vor der Tat mehrmals telefonierte. Er besaß selbst Waffen. Er sei politisch so rechts eingestellt, dass ihm der Spitzname „Klein-Adolf“ anhänge. Das HLfV behinderte nach Kräften die Ermittlungen gegen ihn, so dass diese schließlich eingestellt wurden.
Spätestens nach dem November 2011 konnte dies als deutlicher Hinweis auf eine Verstrickung Temmes, seines V-Manns und möglicherweise des gesamten HLfV in die Mordserie gedeutet werden. Dies taten und tun bis heute nicht nur die diversen Medien, sondern untersuchten von Ende 2011 bis Frühjahr 2012 auch die zuständigen Sicherheitsbehörden.
Wieviel ist aber wirklich dran an dem Verdacht? Halten die medialen Darstellungen einer genauen Untersuchung stand? Überzeugte VertreterInnen der Verschwörungstheorie à la „Tiefer Staat“ sind durch eine genauere Betrachtung des Falles sicher nicht zu überzeugen, da sie jedes entlastende Indiz als manipuliert, jeden fehlenden Beleg als planvoll beseitigt ansehen. Lässt sich eine Behauptung gar nicht mehr halten, wird sie einfach aus dem Gesamtbild gelöscht (so geschehen mit den angeblichen „echten falschen“ Ausweispapieren des NSU, die anfänglich als großer Beweis für die Verstrickung von Geheimdiensten genannt wurden, nach der plausiblen Erklärung ihrer Herkunft dann stillschweigend unter den Tisch fallen gelassen wurden).
Es soll hier trotzdem versucht werden, den Fall Temme abzuklopfen auf Widersprüche und mögliche Schlussfolgerungen.
Was ist genau passiert am 6.4.2006?
Die Polizei hat sich um eine minutiöse Rekonstruktion des Tatablaufs bemüht – so genau, dass am Ende Zeiträume von 1-3 Minuten eine wichtige Rolle spielen. Solche Zeiträume sind durch Zeugenaussagen nahezu unmöglich sicher abzubilden, die Aussagen der Anwesenden lassen eine schlüssige Chronologie nicht zu. Deshalb wurde auf gespeicherte technische Daten (Ein-/Ausloggen an den PCs im Internetcafé etc.) zurückgegriffen. Angenommen, diese Daten sind exakt, ergibt sich folgendes Bild:
Um 16:51 Uhr loggte Temme sich im Internet-Café im PC-Nebenraum ein. Außer ihm waren noch zwei kurz zuvor gekommene Jugendliche an jeweils einem PC und spielten. Halit Yozgat saß im Eingangsraum, dort befinden sich auch Telefonkabinen.
Um 16:54 begann der Zeuge S. ein Telefonat in einer Telefonkabine, zu diesem Zeitpunkt war Yozgat sicher noch am Leben. Der Zeuge sagte aus, dass er während seines Telefonats ein Geräusch hörte („platzender Luftballon“) und jemanden vorbeigehen sah, doch ihm war die Sicht verdeckt.
Um 17:01 loggte Temme sich aus, stand auf und ging in den Vorraum, wo er Yozgat seiner späteren Aussage zufolge nicht sah. Er schaute kurz nach draußen auf die Straße, wo er auch nicht war, ging dann zurück zum Schreibtisch, legte 50 Cent hin und ging weg.
Um 17:03 beendete S. sein Telefongespräch und wollte bezahlen. Auch er sah Yozgat nicht und ging am Tisch vorbei in den PC-Raum, wo er die beiden Jugendlichen ansprach. Fast zeitgleich mit seiner Rückkehr in den Eingangsraum kam Yozgats Vater herein und entdeckte nach kurzer Zeit seinen sterbenden Sohn hinter dem Tisch.
Soweit der bekannte Ablauf.
2006 wurde in der Presse vielfach behauptet, der Mord habe sich womöglich erst kurz nach Temmes Verlassen des Raumes ereignet. Diese Darstellung basierte im wesentlichen auf einem Bericht der Bild-Zeitung vom 13.7.2006, der sich wiederum auf die falsche Angabe eines Oberstaatsanwalts stützte, der am Telefon behauptet hatte, die „Tathergangsrekonstruktion“ habe einen solchen Ablauf ergeben. Das hessische LKA entschied sich damals, die falsche Darstellung nicht öffentlich richtigzustellen, um nicht noch mehr Staub aufzuwirbeln. Da die Polizei längere Zeit sehr ernsthaft gegen Temme als Hauptverdächtigen ermittelte, soll hier keine böse Absicht unterstellt werden, auch wenn dieser Versuch zur Entlastung Temmes den hessischen Behörden zurecht als Vertuschung vorgeworfen wird. Bei näherem Hinsehen ist diese Version indessen gar keine Entlastung, ganz im Gegenteil. Denn wenn Yozgat um 17:01 noch lebte (als Temme sich ausloggte), zwei Minuten später aber tot war, müsste fast zwingend angenommen werden, dass Temme den oder die Täter gesehen hat, wenn nicht gar die Tat selbst. Für Temmes Weg nach vorne, Blick auf die Straße, Weg zurück zum Tisch, Verlassen des Ladens, Eintreten der Mörder, tödliche Schüsse, Verlassen des Ladens durch die Mörder bliebe nämlich nur ein Zeitraum von amtlich 106 Sekunden.
In diesem Fall müsste Temmes Aussage, er habe Yozgat nicht gesehen und das Geld einfach auf den Schreibtisch gelegt, vorsätzlich gelogen sein, und zwar in Kenntnis genau der Zwickmühle, in die er andernfalls geraten würde. Eine solche kühle Berechnung passt aber schlecht zu dem Persönlichkeitsbild von Temme, wie es sich aus den polizeilichen Ermittlungen ergibt. Dazu und zu den logischen Widersprüchen, die sich aus einem solchen Szenario ergeben, später mehr.
Es kann also wohl davon ausgegangen werden, dass der Mord an Halit Yozgat zwischen 16:54 und 17:01 geschah. Yozgat wurde unter Verwendung eines Schalldämpfers und höchstwahrscheinlich durch eine Plastiktüte hindurch (zur Tarnung der Waffe und Sicherung der Patronenhülsen) erschossen, während nur zwei Meter entfernt ein Zeuge telefonierte, ohne das mitzubekommen. Insgesamt befanden sich in dem Laden sechs Personen, von denen niemand den Mord bemerkte! Lediglich zwei unkonkrete Geräuscherinnerungen („dumpfes Geräusch“, „Platzen“) waren kurz nach der Tat vorhanden. Mehr noch, auch der Zeuge S. sah weder den Körper hinter dem Tisch liegen noch die Blutspritzer auf dem Tisch, als er nahezu denselben Weg im Laden zurücklegte wie zwei Minuten zuvor Temme. Das macht Temmes Behauptung, nichts bemerkt zu haben, doch um einiges glaubwürdiger.
Das LKA bemühte sich, anhand von Messungen nachzuweisen, dass Temme aufgrund seiner Körpergrösse von 1,90m Yozgat hinter dem Schreibtisch hätte liegen sehen müssen. Dazu konnte Temme nichts weiter entgegnen als dass er ihn eben nicht gesehen habe. Der fragliche Tisch war rundum verkleidet, zudem recht nahe an der Wand aufgestellt. Der Drehstuhl war, als Yozgat getroffen niederfiel, so stehengeblieben, dass er den Blick auf den Körper von der Seite verstellte. Es scheint nicht ausgeschlossen, dass eine dahinter liegende Person übersehen wird, zumal wenn die Person vor dem Tisch nicht mit einer solchen Situation rechnet. Auch der Zeuge S. hatte wie erwähnt Yozgat nicht liegen sehen. Es werden gelegentlich Fotos verbreitet, die Yozgat neben dem Tisch liegend zeigen. Diese Fotos wurden aber erst gemacht, nachdem sein Vater und andere Helfer den Körper hinter dem Tisch hervorgezogen hatten.
Was die Blutspritzer angeht, so wird manchmal der Eindruck erweckt, die ganze Tischplatte sei auffällig übersäht damit gewesen. Das ist nicht richtig. Die Verletzungen von Halit Yozgat waren kleine Einschußlöcher, aus denen anfangs nur wenig Blut austrat. Bei seinem Sturz ergaben sich ein paar kleine Blutstropfen auf dem (von vorne gesehen) rechten Bereich des Tisches, wo allerlei Dinge herumlagen, Zettel, Münzen, eine Tastatur etc., während die Aufmerksamkeit der BesucherInnen auf den mittleren und linken Bereich des Tisches gerichtet sein musste, der keine Auffälligkeiten aufwies. Es ist durchaus plausibel, anzunehmen, dass KundInnen bei flüchtiger Betrachtung die Blutspritzer nicht als solche wahrnahmen.
Die Ermittlungen gegen Temme 2006
Ist Temmes Aussage, wonach er von allem nichts mitbekam und nur „zur falschen Zeit am falschen Ort“ war, also im Gegensatz zu allen Verdächtigungen glaubwürdig? Ganz so einfach ist es nicht. Temmes Verhalten in den Vernehmungen war so auffällig, dass auch das LKA ihn über mehrere Monate als Hauptverdächtigen behandelte. Er gab sich zwar kooperativ, gestand aber manche Details aus seinem Leben nur ein, wenn sie ihm vorgehalten wurden, und auch dann blieben Widersprüche zurück. Daraus ergab sich logisch, dass er etwas zu verbergen hatte. Das brachte den vernehmenden Kommissar dazu, ihm auf den Kopf zuzusagen, es müsse entweder eine „dunkle Seite seiner Persönlichkeit“ geben oder er müsse etwas mit der Tat zu tun haben. Das LKA gab sich einige Mühe mit den Ermittlungen gegen Temme: Neben mehreren Vernehmungen wurde sein Telefon und seine E-Mail überwacht, er wurde zeitweise observiert, seine Wohnung und sein Büro beim HLfV durchsucht und sein PC analysiert, es gab Finanzermittlungen und Überprüfungen seiner Alibis bei den anderen Mordfällen. Sein Fahrtenbuch wurde ausgewertet, die von ihm geführten V-Personen auch gegen den Willen des HLfV zu identifizieren versucht. Von gezielter staatlicher Vertuschung kann in soweit jedenfalls keine Rede sein.
Die Überwachung ergab auch, dass Vorgesetzte des HLfV Temme telefonisch Informationen zum Verfahren gaben, was die Polizei so verärgerte, dass sie über Ermittlungen gegen das HLfV wegen Geheimnisverrats nachdachte. Die „Unterstützungshaltung“ des HLfV für seinen kompromittierten Beamten war offenkundig, und ein leitender Polizist beschwerte sich Anfang Juli 2006 empört über Äußerungen von Verfassungsschützern wie „…wir haben es hier doch nur mit einem Tötungsdelikt zu tun…“. Um diese Rückendeckung zu brechen, stellte die Polizei umfangreiche schriftliche Strategie-Überlegungen an.
Das HLfV konnte sich mit seiner Taktik des Mauerns – am Ende unter partieller Opferung des Beamten Temme, der lange verteidigt worden war, dann aber doch aus dem Verfassungsschutz entfernt wurde – schließlich weitgehend durchsetzen, auch weil der hessische Innenminister Bouffier ihm den Rücken stärkte. Das bedeutete vor allem, dass die Polizei die von Temme geführten V-Personen nicht selbst vernehmen durfte, sondern nur Berichte vom HLfV darüber bekam, die besagten, es habe sich daraus nichts relevantes ergeben. Ob Bouffier damit aber, wie manche vermuten, einen großen LfV-NSU-Mord-Skandal vertuschen wollte oder nur das tat was er immer tat, lässt sich daraus nicht herleiten. Bouffier stand 2006 unter politischem Druck als Law-and-Order-Minister mit rechtlich zweifelhaften Methoden, nicht weit davon entfernt, selbst strafrechtlich verfolgt zu werden. Er hatte Grund genug, in seinem Laden die Schotten dicht zu halten und kein weiteres Material für Presseskandale zu liefern, und das bedeutet in solchen Fällen meistens: Mauern.
Was das LKA angeht, so ermittelte es, salopp gesagt, nicht gegen das HLfV wegen Weltverschwörung, sondern nur gegen Temme wegen Mordverdachts. Als hinreichend entlastende Indizien zu seiner Person vorlagen, waren die „dunklen Seiten“ seiner Persönlichkeit nicht mehr von Interesse. Als hinreichend entlastend wurden folgende Punkte angesehen:
- Die anfangs von einem Zeugen aufgestellte Behauptung, Temme habe eine Plastiktüte bei sich getragen, ließ sich nicht bestätigen.
- Der Ablauf des Geschehens im Internetcafé schien schlüssig.
- Für seine anfänglichen Lügen und Ausflüchte waren einigermaßen plausible Begründungen geliefert worden. Eine aktuelle rechtsextreme Haltung Temmes war nicht festzustellen und schied daher als Motiv aus.
- Für die anderen Mordfälle der Çeska-Serie hatte er nachweislich Alibis.
Es liegt auf der Hand, dass Temme auch ohne eine Verwicklung in den Mord „gute“ Gründe gehabt hatte, die Polizei zu täuschen. Er hielt sich vorschriftswidrig und unprofessionell in einem Internetcafé nahe einer Moschee auf, in der von ihm beobachtete Personen verkehrten. Er flirtete in einer Chat-Line, während seine Frau schwanger war. Er verheimlichte seiner Frau und seinen Eltern, dass er Waffen besaß und in einem Schützenverein schoss. Er bewahrte in seinem Dienstzimmer Pornohefte und, verbotenerweise, gelegentlich private Schusswaffen auf. Zuhause hatte er auch noch ein Stückchen Haschisch, natürlich angeblich nie probiert. Kurz, er war offensichtlich unreif und seiner Tätigkeit nicht gewachsen – was vermutlich auf einen Großteil der VS-MitarbeiterInnen zutrifft. Mit der polizeilichen Ermittlung drohte diese Blase der Selbstüberschätzung und Heimlichtuerei zu platzen, was ihm und auch den Kriminalbeamten rasch klar wurde; letztere bescheinigten Temme, sich selbst für intelligenter zu halten als er tatsächlich sei. Negative berufliche Folgen waren absehbar. All dies kann durchaus reichen, einen solchen „normalen Deutschen“ in Panik zu versetzen, mit den bekannten Folgen: Er redete sich ein, nicht der öffentlich gesuchte Zeuge des Mordfalls zu sein, und duckte sich weg in der Hoffnung, unidentifiziert zu bleiben. Bei seinem letzten Treffen mit seinem rechten V-Mann am 10.4.2006 zeigte er sich sehr nervös. Am 12.4.2006 kündigte er seinen verräterischen Flirt-Line-Account, was vermutlich der Spurenverwischung dienen sollte. Er wurde aber dennoch anhand der Verbindungsdaten aus dem Internetcafé ermittelt.
Ein solcher Ablauf des Geschehens mit all den darin enthaltenen Dummheiten und Fehlern ist an sich „lebensnah“. Einwenden ließe sich, dass die zentrale Frage, wie es sein konnte, dass Temme den am Boden liegenden Yozgat nicht sah, unbefriedigend erklärt ist. Rein spekulativ ließe sich unterstellen, dass Temme den Mann sehr wohl dort liegen sah und darum nur umso panischer reagierte, weil ihm dann ja sofort klar sein musste, dass ihm Ärger ins Haus stand und seine peinliche „dunkle Seite“ auffliegen würde. Dies einzugestehen, hätte ihm spätestens nach den ersten Vernehmungen ein Verfahren wegen unterlassener Hilfeleistung und Falschaussage eingebracht und damit wohl das Ende der Beamtenlaufbahn. Vielleicht ist das die kleine Lebenslüge, die Temmes Auftreten und Aussagen seit damals so halbseiden und unbefriedigend erscheinen lassen?
„Klein-Adolf“ forever?
Die Verbindung zu einem rechten V-Mann und Temmes eigene politische Haltung wurden nach Aufdeckung des NSU 2011 noch einmal Gegenstand der Ermittlungen, zuerst seitens Bundesanwaltschaft und BKA, später auch seitens der Medien. Bei der Durchsuchung in Temmes Zweitwohnung in seinem Elternhaus 2006 waren diverse teils verherrlichende Schriftstücke zur NS-Zeit gefunden worden, darunter auch von Temme selbst abgetippte Auszüge aus Hitlers „Mein Kampf“; und ein Zeuge hatte zudem ausgesagt, der jugendliche Temme habe etwa um 1983 herum im Heimatort Trendelburg-Deisel (nicht, wie oft fälschlich geschrieben, in Hofgeismar) den Spitznamen „Klein-Adolf“ gehabt. Es handelte sich mithin um Vorfälle, die über 20 Jahre zurücklagen. Die Polizei konnte 2006 weder durch Befragungen noch durch die Überwachung von Temme irgendwelche Hinweise auf aktuelle rechte politische Einstellung bzw. Aktivitäten gewinnen, und 2011/12 ergab sich kein anderes Bild. Er selbst, seine Frau und zumindest einer seiner Kollegen stellten rechte Ansichten ausdrücklich in Abrede. Temme gesteht ein, dass er in seiner Jugendzeit anfällig für rechtes Gedankengut gewesen sei, damit sei es aber nach Beginn seiner Ausbildung bei der Post vorbei gewesen.
Dennoch begann bereits am 15.11.2011 ein Rauschen im Pressewald, angeführt von Bild-Zeitung und FAZ: Temme sei „in seinem Heimatort (…) unter dem Spitznamen „Kleiner Adolf“ bekannt gewesen“. Kein Wort dazu, wie lange das zurücklag, oder dass die gefundenen Auszüge aus Hitlers „Mein Kampf“ Abschriften eines 16jährigen gewesen waren. Seitdem wird diese kurze Meldung, meist auch unter Verwendung des ungenauen Zitats („kleiner Adolf“ statt „Klein-Adolf“, was auf den Ursprung in dem FAZ-Artikel verweist), in diversen Medien weiterverbreitet. Doch all die kritischen BloggerInnen und investigativen JournalistInnen haben in den seither vergangenen 18 Monaten nicht ein einziges neues Indiz für Temmes politische Gesinnung von 2006 (oder 2012) beibringen können. Es ist durchaus nicht so, dass es gar keine Indizien gäbe, die einer Nachfrage wert sind. So ließe sich fragen, warum jemand derart peinliche Jugendwerke aufhebt; Temmes Begeisterung für Waffen und Combat-Schießen und seine nicht erschöpfenden Auskünfte bei der Polizei, wann genau er wo bei Schießübungen teilgenommen hat, lassen hellhörig werden; auch seine zeitweise Nähe zum Rockermilieu in Kassel wurde in den Ermittlungen nur oberflächlich gestreift. All das besagt wenig und beweist nichts. Doch in den Medien bleibt es beim „Kleinen Adolf“, der einfach von 1983 nach 2006 verlängert wird, damit die Story stimmt.
V-Mann 389 und die „129er-Liste“
Temme hatte Ende 2003 begonnen, V-Personen zu führen. Sein erster Fall war GP389, wobei GP für „Gewährsperson“ steht, eine noch nicht schriftlich verpflichtete Person. Erst Anfang 2006 wurde GP389 formell zum V-Mann ernannt.
GP389, Benjamin Gärtner, war seit etwa 2000 aktiv in der rechtsradikalen Szene in Kassel, wo sein Stiefbruder Christian Wenzel eine nicht unbedeutende Rolle in der Blood-and-Honour- und Kameradschaftsszene spielte. Gärtner, der wohl eher als Mitläufer auftrat, begann 2003 mit Absetzbewegungen aus der Szene, was das HLfV dazu bewegte, ihn als Zuträger anzusprechen. Da er sich aus der Skin- und Kameradschaftsszene nach eigenen Angaben zurückziehen wollte, wurde er auf die rechte Splittergruppe „Deutsche Partei“ aus dem Dunstkreis von DVU und REP angesetzt, die nahezu keine Aktivitäten (außer internen Streitereien) entfaltete. Aus der neonazistischen Szene berichtete er mehr vom Hörensagen aufgrund seiner fortbestehenden privaten Kontakte. Die Angaben von Rechten zur eigenen Position in der Szene sind an sich mit Vorsicht zu genießen, da diese oft die eigene Rolle kleinreden oder sich gar als „Aussteiger“ darstellen. Temmes Berichte über die Treffs – die der Polizei in Teilen übergeben wurden – waren aber doch recht kurz oder entfielen ganz mangels Informationen, auch Geld floss offenbar nur sehr wenig, was dafür spricht, dass Gärtner wirklich wenig zu liefern hatte. Temme selbst betrachtete eigenen Aussagen zufolge die Quelle als unwichtig und unergiebig; dass er Gärtner dennoch regelmäßig jeden Monat traf, mag auch daran liegen, dass er sonst nicht viel zu tun hatte, aber seine eigene Produktivität beweisen wollte. Neben Gärtner führte er noch 5 V-Personen, alle aus dem islamistischen Bereich.
Temme traf Gärtner einmal jeden Monat, meist in den ersten Tagen. Dazwischen gab es nach übereinstimmenden Aussagen von Temme und Gärtner nur kurze Telefonate, in denen es lediglich um Terminabsprachen ging. Am 6.4.2006 rief Gärtner um 13:06 Uhr Temme auf dem Mobiltelefon an, das Gespräch dauerte nur 17 Sekunden, vermutlich weil Temme sich gerade bei einem Treffen mit seinem V-Mann 650 befand. Da das monatliche Treffen bevorstand, war ein kurzer Telefonkontakt im Rahmen des Normalen. Später rief (höchstwahrscheinlich) Temme von seinem Büro aus dann bei Gärtner auf dem Mobiltelefon zurück. Dieses Telefonat von 16:10 Uhr war der Polizei 2006 nicht bekannt geworden und wurde von Temme in seinen Vernehmungen auch nicht erwähnt. Es dauerte rund 11 Minuten, also ganz unüblich lang. Nachdem es 2011 aufgedeckt wurde, konnten weder Temme noch Gärtner bei ihrer Nachvernehmung etwas dazu sagen. Temme sagte aus, weder für das Telefonat an sich noch für sein Verschweigen eine Erklärung zu haben, er sei „einigermaßen fassungslos“ darüber. Gärtner gab zu Protokoll, er sei sehr „verwundert“ darüber, dass er sich an ein so ungewöhnlich langes Gespräch nicht erinnern könne. Bei aller Bereitschaft, im Zweifelsfall die weniger dramatische Erklärung zu akzeptieren, bleibt dieses Telefonat doch eine ziemliche Gräte im Hals der Aufklärung.
Ob Gärtner eine bedeutsame Rolle in der unappetitlichen Kasseler rechtsradikalen Szene spielte oder auch nur wichtige Informationen von dort bekam, ist nicht aufgeklärt. Die Ermittlungsbehörden meinen, dem war nicht so. Sie messen ihm auch in Sachen NSU keinerlei Bedeutung zu.
Für Verwirrung sorgt hierbei eine Liste mit 129 Namen, zu denen im Rahmen des NSU-Komplexes Ermittlungen angestellt wurden. Viele Medien behaupten unverdrossen, es handele sich um eine Namensliste des „NSU-Netzwerks“ bzw. der „NSU-Unterstützer“, und daher sei auch Gärtner als NSU-nah einzustufen. Das ist aber falsch, tatsächlich ist es eine Aufstellung der Personen, die im Rahmen des Verfahrens irgendwie auffällig geworden sind und über die Informationen gesammelt wurden. In die Ermittlungen zum NSU ist Gärtner jedoch nur durch seine Verwicklung in den Fall Temme und damit in den Mordfall Yozgat geraten, weshalb sein Name auch nicht erst auf der „129er-Liste“, sondern bereits auf der allerersten Suchliste von 41 Namen vom November 2011 aufgeführt war. Ansonsten erscheint sein Name nirgends in den Querverbindungen rund um den NSU soweit bisher aktenkundig.
Die banale Wahrscheinlichkeit
Einmal unterstellt, all die genannten relativierenden Fakten wären durch Manipulationen und Fehler der Verschwörer zu erklären: Wie ließe sich die Anwesenheit Temmes am Tatort vor dem Hintergrund einer Mordverschwörung logisch erklären?
Welche praktische Rolle hätte er am Tatort spielen können? Keine. Dass er den Mord selbst beging, behauptet wohl niemand. Wenn er am Telefon Absprachen zur Tat getroffen hatte, war es nicht notwendig, vor Ort zu sein. Dass die Killer zuverlässig und gut ausgerüstet waren, hatten sie schon mehrfach bewiesen. Um sich mit ihnen zu treffen, war ein Mordschauplatz wohl der ungünstigste denkbare Ort. Soll er aus unprofessioneller Schaulust gekommen sein, um den Tätern beim Morden zuzusehen?
In dem Internetcafé befanden sich zur Tatzeit mehrere Personen die ihn sehen konnten, und Temme hinterließ in Form seines Chat-Logins dauerhafte Datenspuren, von denen er als Nachrichtendienstler genau wissen musste, dass sie nachverfolgbar waren. Er musste außerdem wissen, dass in Mordfällen ein erheblicher Ermittlungsapparat zu arbeiten beginnt, der nicht vollständig manipulierbar ist. Er müsste also entweder ein unglaublich dummer Mitverschwörer gewesen sein, oder es war ihm egal, dass er identifizierbar war. Beides passt nicht gut zu dem Ausmaß von Heimlichkeit, den diese monströse Verschwörung aufweisen musste, um so lange zu funktionieren.
Auch der Verlauf der Ermittlungen danach ist nicht ohne weiteres als reine Verdunkelungsaffäre zu bewerten. Die Ermittlungen der Polizei gegen Temme waren ernsthaft und gründlich, auch wenn sie Fehler enthalten haben mögen. Die Zuarbeit des HLfV war, wie beschrieben, in für den Verfassungsschutz typischer Weise gebremst und für die Polizei unbefriedigend, aber keine reine Vertuschung. Der Polizei wurden umfangreiche Unterlagen zur Verfügung gestellt, Kalender, Telefonnummern, die von Temme verwendeten geheimen Autokennzeichen… Wenn die Verschwörung so perfekt war, dass man diesen Informationsfluss genau unter Kontrolle hatte und sicher war, dass keine verräterischen Daten durchsickerten, wie passt dann wieder der dumme Temme mit seinem Auftritt am Tatort hinein? Andererseits, wenn das Ganze ein Durcheinander war und die Devise beim HLfV Schadensbegrenzung hieß, wie kommt es dann, dass all die umfangreichen Ermittlungen – zum Fall Temme wurden aus Hessen 37 Aktenordner übersandt – keinen Hinweis auf die Verschwörung erbrachten?
Wenn Temme kein aktiver Verschwörer war, sondern „nur“ Mitwisser des NSU – mutmaßlich durch seinen V-Mann -, dann war es dennoch unsinnig, sich während der Tat im Internetcafé aufzuhalten. Wenn es um die Identifizierung unbekannter oder ungewisser Täter ging, wären Observationskräfte rund um den Eingang aufgestellt worden, oder, wenn das zuviele Mitwisser gewesen wären, er selbst hätte draußen stehen müssen. Als erkennbarer Zeuge eines Mordes musste er immerhin damit rechnen, selbst auch angegriffen zu werden, wenn er sich den Tätern näherte. Falls es um eine Ansprache der Täter ging, hätte diese niemals in der direkten Mordsituation erfolgen können weil viel zu riskant, sondern wenn dann abgesetzt nach der ersten Flucht. Um lediglich zu wissen, ob die Tat wirklich erfolgt, wäre seine Anwesenheit ebenfalls nicht nötig gewesen. Welche weiteren Szenarios sind denkbar…?
Alles was Temme durch seine Anwesenheit ausrichten konnte – und das gelang ihm optimal -, war, in den Mordfall verstrickt zu werden und sich verdächtig zu machen. Ein schöner Verschwörer!
Die Legendenbildung
Für eine Verwicklung des Verfassungsschutzes in den Mord bzw. den Fall NSU insgesamt gibt der Fall Temme fast nichts her. Die Bemühungen gerade auch linker Medien, hier Verbindungen nachzuweisen oder zumindest zu unterstellen und damit eine Art „Kronzeugenfall“ für die staatliche Verstrickung aufzubauen, beruhen weitgehend auf Verallgemeinerungen und sachlichen Fehlern. Dazu gehören falsche Darstellungen wie:
- der Tresen-Schreibtisch in Yozgats Laden sei nach dem Mord „voller Blutspritzer“ gewesen
- ein Übersehen des liegenden Körpers hinter dem Schreibtisch sei „schier unmöglich“ gewesen
- die ominöse „129er-Liste“ sei eine Liste des „NSU-Netzwerks“
- Temme sei in dem Internetcafé im „operativen Einsatz“ gewesen
- Temme habe „sowohl vor als auch nach seinem Internetbesuch Telefonkontakt zu Neonazis“ gehabt
- der Mord an Halit Yozgat sei „zeitgleich“ mit bzw. „unmittelbar nach“ dem Telefonat zwischen Temme und Gärtner erfolgt
- die Ermittlungen gegen Temme seien wegen der offiziellen Verschleierung komplett „ins Leere gelaufen“ und deshalb eingestellt worden
- „taterhebliche Beweismittel“ seien beseitigt worden
- die Behörden hätten stets behauptet, Temme habe das Internetcafé kurz vor dem Mord verlassen
- das Abschirmen der von Temme geführten V-Leute vor der Polizei sei Beweis dafür, dass es eine Verwicklung in den Mord gebe (obwohl das beim VS immer so gemacht wird)
- die hessische Polizei habe mit dem HLfV kooperiert bei der Vertuschung
- Temme sei als Erwachsener rechtsradikal eingestellt, in seiner Wohnung seien „neonazistische Propaganda“ bzw. „Papiere neonazistischer Gruppen“ gefunden worden
- der Spitzname „Klein-Adolf“ sei für Temme aktuell verwendet worden in seinem Heimatort (und nicht 1983)
- Gärtner sei ein wichtiger Neonazi mit Zugang zu Blood-&-Honour-Internas gewesen
- es sei bewiesen, dass die Tatorte der NSU-Morde zuvor von lokalen Neonazis ausgespäht worden seien
Die Kombination all dieser Ungenauigkeiten und Fehler führt dazu, anhand des Falls Temme eine objektive Beweisbarkeit der Verschwörung zu behaupten, womöglich mit der Beschwichtigung, es werde zwar „keine geheimnisvolle Macht vermutet“ im Hintergrund, doch es sei „ganz nüchtern“ anhand „der vorliegenden Fakten“ zu zeigen, wie „staatliche Stellen das Licht ausschalten“, der NSU den „Escortservice des Verfassungsschutzes für Neonazis“ genutzt und unter dem „Schutz bestehender Institutionen“ gehandelt habe. Alle Zitate stammen aus dem Blog eines derzeit bei Linken sehr populären Autoren.
Dass alle Fragen zum Fall Temme beantwortet sind, lässt sich nicht behaupten. Verdachtsmomente gegen ihn bleiben bestehen: Seine jugendliche rechte „Phase“, seine persönliche Ausstattung mit Waffen und sein früheres Liebäugeln mit Rockerclubs lässt ihn zumindest als jemand erscheinen, dem im Profiling ein gewisse Anfälligkeit für die bei Rechtsradikalen verbreitete aggressive und tatkräftige „Männlichkeit“ zuzutrauen wäre. Sein Verschweigen des längeren Telefonats mit Gärtner kurze Zeit vor dem Mord wirft die Frage auf, worum es in diesem unüblichen Gespräch ging.
Die Akte über die mögliche Verwicklung Kasseler Neonazis in den Mord an Halit Yozgat kann ohnehin nicht geschlossen werden – zum Beispiel erfordern die Ermittlungen zu dem notorischen Neonazi Berndt Tödter und den Beschuldigungen gegen ihn eine ganz eigene Untersuchung, für die hier der Platz fehlt. Ein neues Kapitel…
(dieser Text wurde am 1.7.2013 von mir sehr geringfügig stilistisch überarbeitet – T.L.)