Gladio / Stay Behind – wieviel Verschwörung ist dabei?

Ich behandle in diesem Text vor allem die Frage, welche Rolle die geheime Organisation „Stay Behind“ in Deutschland spielte oder gespielt haben könnte, unter besonderer Berücksichtigung der Zeit 1980/1981, und welche Fehlinformationen darüber verbreitet sind.
Da der gesamte Text 50 Seiten umfasst, stelle ich ihn hier als PDF zur Verfügung und dokumentiere nur Inhaltsverzeichnis, Einleitung und Schlussfolgerung.

Inhaltsverzeichnis
02 – Einleitung
04 – Das Hauptproblem: Die Quellenlage
08 – Die Identifizierung des Themas
11 – Zur Entstehungsgeschichte und Entwicklung der SBO
15 – Exkurs 1: Das „Field Manual“ FM 30-31B
18 – Kritische Würdigung: Daniele Ganser – NATO’s Secret Armies, Chapter 15: The Secret War in Germany
39 – Exkurs 2: Jens Mecklenburg (Hg.) – GLADIO – Die geheime Terrororganisation der NATO
41 – Kritische Würdigung: Tobias v. Heymann – Die Oktoberfestbombe, Kapitel zum Thema SBO
48 – Schlussfolgerung
50 – Quellen

Einleitung

Unter Begriffen wie „Gladio“ und „NATO-Geheimarmeen“ geistert seit 1990 ein Phäno­men durch die Medien, das zu vielen Spekulationen Anlass bietet. In der kritischen Öffent­lichkeit wird eine mögliche politische Rolle von „Gladio“ in den 1970er und 1980er Jahren in der deutschen Innenpolitik diskutiert. Mit dieser Diskussion und ihren Kern­argumen­ten beschäftigt sich die folgende kleine Untersuchung. In die allgemein­politische Debatte rund um das Thema steige ich dabei nicht genauer ein, da dies bei weitem den Rahmen sprengen würde und für eine Würdigung der recherchierbaren Fakten­lage auch meines Erachtens nicht nötig ist. Für eine Darstellung des ganzen Stay-Behind-Komplexes sei auf die einschlägige Lite­ra­tur verwiesen, insbesondere auf Daniele Gansers Buch „NATO’s Secret Armies – Operation Gladio and Terrorism in Western Europe“ (2004), auf das im folgenden haupt­säch­lich eingegangen wird. Vorkenntnisse zum Thema werden in etlichen Detailfragen vorausgesetzt.

Vorausschicken will ich: Wer neue Enthüllungen erwartet, wird enttäuscht werden. Meine Recherchen und Beurteilungen laufen eher darauf hinaus, einen ganzen Haufen von falschen und fragwürdigen Darstellungen zu untersuchen, die teilweise absichtsvoll, meistens aber durch ungenaue Bearbeitung entstanden sind und den Diskurs verstopfen. Erst wenn diese beiseite geräumt sind, kann die Bedeutung von „Gladio“ realistisch ein­geschätzt werden.

Unumstrittene Grundlage des ganzen Themas ist die Tatsache, dass Ende der 1940er Jahre die USA und Großbritannien auf dem Territorium der verbündeten europäischen Staaten insgeheim Vorbereitungen trafen, um nach einer möglichen Besetzung Europas durch die sowjetische Rote Armee militärische Operationen im besetzten Gebiet durch­führen zu können. Diese „Stay Behind“-Organisationen (im folgenden als SBO abge­kürzt) wurden in den ersten Jahren von den Besatzungsmächten initiiert und dann von den beteiligten Staaten jeweils als eigenständige Struktur weitergeführt. Nach der Grün­dung der NATO 1949 wurden die SBO in Brüssel koordiniert und bestanden über mehre­re Jahrzehnte bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion. So weit, so ein­leuchtend.

Brisant wird das Thema bei der Frage, wie sich die SBO-Strukturen in den einzelnen Staaten entwickelt haben und inwieweit sie in Eigeninitiative oder sogar von oben gesteuert in die jeweilige Innenpolitik eingegriffen haben, um die politische Linke zu bekämpfen. Eine objektive Abgrenzung der SBO gegenüber anderen Formen der Sicherheits- und Geheimpolitik dürfte vor allem in den 1950er/1960er Jahren schwierig sein, etwa im Fall der Militärdiktaturen in Spanien, Portugal und Griechenland oder beim französischen Algerienkrieg (1954-1962), weil dort militärische und nachrichten­dienstliche Operationen verschiedenster Art eng miteinander verwoben waren.

Überdies war die SBO einem Wandlungsprozess unterworfen, da sie in der Gründungsphase stark militärisch ausgerichtet und mit den parallel entstehenden „Special Forces“ der ein­zel­nen Länder, vor allem von USA und Großbritannien, verbunden war, später aber zunehmend zu einem länderspezifischen und nachrichtendienstlichen Instrument geworden zu sein scheint. In vielen öffentlichen Beiträgen wird die SBO behandelt, als ob es zwischen 1950 und 1990 weder in der SBO selbst noch in deren politischen und militär­ischen Rahmenbedingungen Veränderungen gegeben habe, während doch die Welt ringsum sich in dieser Zeit stark veränderte.

Italien, Belgien und die Bundesrepublik Deutschland (BRD) sind die Staaten, in denen die SBO am stärksten der teils terroristischen Einmischung in die Innenpolitik ver­däch­tigt wird. Ich will im folgenden Text versuchen, in Sachen BRD etwas mehr Klarheit in die verbreitete Mischung aus Fakten, Vermutungen und Desinformationen zu bringen, soweit dies auf der Basis der öffentlich zugänglichen Informationen möglich ist.

[…]

Schlussfolgerung

Wer nur im Internet „Dr. Google“ oder „wikipedia“ fragt, kann nach zehn Minuten die Recherche beenden mit dem – je nach Sichtweise – beruhigenden oder beunruhigenden Gefühl, dass auch in Westdeutschland eine bis an die Zähne bewaffnete NATO-Unter­grundarmee, bestehend aus BND und Neonazis, die Innenpolitik durch Terror­anschläge beeinflusst hat.
Leider lösen sich bei genauer Betrachtung und Hinterfragung viele der Darstellungen in Luft auf. Aus Tatsachen werden Vermutungen, Feststellungen erweisen sich als reine Behaup­tungen, scheinbar seriöse Quellen zitieren lediglich weniger seriöse Quellen.

Die Existenz der SBO an sich ist unumstritten. Ebenso klar ist, dass im Kampf gegen die „kommunistische Gefahr“ die westlichen Dienste, allen voran die von UKUSA, mit wenig Skrupeln vorgingen und ihr Personal Rechtsradikale benutzte, teilweise auch selbst politisch dort einzuordnen war und ist. Die „Strategie der Spannung“ in Italien 1969-1974 kann als historisches Faktum und Beleg dafür angesehen werden.

Was die BRD angeht, lässt sich dies aber nicht als Tatsache, sondern nur als Vermutung behaupten. Die offizielle Darstellung ist nicht unplausibel, derzufolge die SBO in der BRD ab Anfang der 1970er Jahre zurückgebaut wurde und keine bedeutende militäri­sche Schlagkraft mehr besaß, sondern bis auf einen ganz kleinen Rest nur noch nach­richtendienstlich orientiert war. Selbst wenn damit nicht ausgeschlossen ist, dass einzelne extreme Elemente von SBO und BND – bzw. CIA – politische Aktionen durchgeführt haben könnten, ist das doch um einige Nummern kleiner als eine syste­matische „geheime Innenpolitik“ durch die SBO. Es gibt keine positiven Indizien für solche einzelnen Aktionen aus dem SBO-Milieu. Alle Vermutungen rund um die Depots von Heinz Lembke und das Oktoberfest-Attentat sind spekulativ, so gut sie auch in ein theoretisches Modell des Kalten Krieges im Inneren passen könnten.

Aktuell (März 2013) werden solche Theorien aufgewärmt durch den in Luxemburg stattfindenden „Bommeleeër“-Prozess und die Erklärung eines deutschen Zeugen, wo­nach sein Vater als BND- und SBO-Agent Informationen über die Anschläge von München und Bologna 1980 gehabt habe. Die diesbezügliche „eidesstattliche Erklärung“ vom 14.3.2013 enthält aber dazu nur ganz oberflächliche Informationen, die der Presse entnommen sein können und einer genauen Überprüfung bedürfen.

Solange es keine substanziellen Belege gibt, entweder in Form von Aussagen Beteiligter oder in Form von authentischen Dokumenten oder Sachspuren, scheint es mir gerade für Linke wichtig, den spekulativen Charakter der SBO-Verschwörungs-Theorien nicht aus den Augen zu verlieren. Es muss erkennbar sein, wo objektive Informationen behandelt werden und wo politische Theorien dargelegt werden. Nur so kann (staats-)kritische Publi­zistik ihre Glaubwürdigkeit behalten und die Falle vom „Schäfer und dem Wolf“ vermeiden.