ESF 2002: Weiter, weiter!

Das Europäische Sozialforum in Florenz: Eine erste Bilanz

Das einfachste zuerst, da sich darin nahezu alle einig sind, die über das ESF in Florenz berichten: Das ESF hatte kein Ergebnis, das sich in einer einheitlichen politischen Perspektive, in konkreten Schritten, in Formen der Organisierung oder Institutionalisierung ausdrücken ließe. Was das für die Globalisierungsbewegung, die außerparlamentarischen oder auch die revolutionären Strömungen in Europa bedeutet, wird je nach Blickwinkel aber verschieden beurteilt werden.

Die unüberschaubare Anzahl der Veranstaltungen, teilnehmenden Gruppen und Personen machte es zu einem Glücksspiel, wer auf wen traf und ob dabei etwas Produktives herauskam. Die Großveranstaltungen waren meist ein Schaulaufen der Prominenz mit bekannten Statements; die Seminare und Workshops waren unberechenbar: sie konnten chaotisch verlaufen oder in neuen Projekten münden, Diskussionen oder Spaltungen bringen oder auch ganz ausfallen mangels Beteiligung. Niemand konnte die wirkenden Kräfte bündeln oder überhaupt nur kommunizieren, was da gerade insgesamt abläuft.

Das schöne Durcheinander

Die vielfältige Beschreibung des ESF als linker „Kirchentag“, als „Jahrmarkt“, „linke Messe“ oder „bella confusione“, deuten auf seine wesentliche Funktion hin: Die Selbstvergewisserung der Bewegung, zu existieren und stark zu sein: Wir sind jung, wir sind viele, und wir hören die bessere Musik! Dieser emotionale Aspekt, der nur diejenigen erfassen kann, die selbst vor Ort waren, wird im Nachhinein von den trockenen LehrmeisterInnen der revolutionären Strategie selbstverständlich als banal, unpolitisch et cetera abgetan werden. Wer schon alles weiß und lange Texte verfaßt, hat oft keinen Blick mehr für die massenpsychologisch notwendigen Momente der kollektiven Machterfahrung. Die persönliche Erfahrung von Florenz war, daß die allermeisten mit einem Gefühl der Stärke und des Optimismus in ihre Städte zurückkehren, um weiterzumachen gegen die Ist-alles-sinnlos-Propheten. Diese haben natürlich trotzdem recht, wenn sie kritisieren, daß das ständige Gipfel- und Forumhopping, das wortreiche Beklagen der Zustände, das symbolische Zusammenströmen längst an eine Grenze gekommen sind, jenseits derer die eigentliche politische Wirkungsmacht der Bewegung erst beginnen könnte, die aber kaum überschritten wird.

Allen Beteiligten ist, mehr oder weniger, bewußt, daß das Ende der Diffusität und des unkonkreten Versprechens einer „möglichen anderen Welt“ auch das Ende der hunderttausendfachen Kollektivitätsgefühle wäre. Die politischen Strömungen, die in Florenz zusammenkamen, würden niemals in der Lage sein, sich über gemeinsame politische Strategien zu verständigen. Der Aufmarsch der unzähligen Kleingruppen vom orthodox-kommunistischen über das anarchistische bis zum christlich-ökologischen Spektrum war ein einziges Babel, und der Verzicht auf die konkrete politische Debatte war das einzige Mittel, dieses Babel friedlich zusammenzuhalten. Dennoch: Es war ein grandioses Babel!

Italien

Das spielt vor allem eine wichtige Rolle für den zweiten der möglichen Blickwinkel, die Bedeutung des ESF für Italien. Die Teilnahme von einigen tausend Menschen aus anderen Ländern war für die italienische Linke sicherlich erfreulich und anspornend, aber letztlich nicht unbedingt erforderlich. Andersherum sind die verschiedenen italienischen Bewegungen zur Zeit (wieder einmal) ein wichtiger Motor der gesamteuropäischen Entwicklung. Ohne die großen und finanzkräftigen italienischen Organisationen (bis hin zur sozialdemokratischen Partei DS), die Aktionsbereitschaft der linken Gewerkschaften, und vor allem ohne den hohen Organisierungs- und Mobilisierungsgrad der italienischen Linken wäre es nicht möglich gewesen, den Ablauf der Mammutshow überhaupt einigermaßen zu gewährleisten. Insofern läßt sich wohl sagen, daß das ESF in dieser Form derzeit nur in Italien stattfinden konnte. Die italienische radikale Linke, gespalten wie sie ist, hat aus Florenz weiteren Auftrieb bekommen für außerparlamentarische, radikale Opposition. Durch den „geordneten“ Verlauf des ESF und die unerwartet große Beteiligung hat sich der gesellschaftliche Spielraum für die anstehenden Konflikte in Italien vergrößert.

Wer jetzt euphorisiert aus Italien zurückkommt zu den Mühen der eigenen Ebenen, wird rasch feststellen, daß sich dort viele der Erfahrungen und Gefühle von Florenz nicht politisch umsetzen lassen. In Deutschland läßt sich das schon daran erkennen, daß der bereits 2001 formulierte Vorschlag zur Schaffung weltweiter „sozialer Foren“ hierzulande bis heute nahezu keine Resonanz gefunden hat. Es wäre auch jetzt unsinnig, die italienische Situation auf Deutschland übertragen zu wollen und mit dem Rückenwind von Florenz große Projekte auszudenken und in den Sand zu setzen. Die Mobilisierungskraft und kreative Energie der italienischen Linken kann aber – wie schon früher – hierher ausstrahlen. Ein Beispiel dafür könnten die in Florenz begonnenen Projekte der Disobbedienti sein, mit „Global Radio“, „Global TV“ und einer Zeitschrift „Global“ Kommunikationsformen zu schaffen, die neben das mal kreative, mal lähmende Durcheinander der Internet-Vernetzung Orientierungspunkte setzen.

Ausgleich zum 8:8 kurz vor dem Abpfiff

Was die Frage nach möglichen Perspektiven angeht und nach dem Verhältnis der unterschiedlichen Fraktionen innerhalb der Bewegung vor und nach dem ESF, so läßt sich wohlwollend von einem Unentschieden nach einem lebhaften Spiel sprechen, oder kritischer von Stagnation auf hohem Niveau. Grob lassen sich drei Strömungen skizzieren: Eine reformerische, die über große Ressourcen verfügt und deren Ziel es ist, „auf gleicher Augenhöhe“ mit Regierungen oder UN-Apparaten zu verhandeln; eine traditionalistische linke, vor allem von trotzkistischen Zirkeln geprägt, die von der starken Bewegung angelockt wurde und nach Machtpositionen darin strebt; eine bewegungsorientierte, die wenig positiv formulierte Ziele innerhalb der Bewegung benennen kann, sondern vor allem den Bewegungscharakter gegen die beiden anderen Strömungen lebendig halten will. Keine dieser drei Strömungen hat im ESF triumphieren können. Die Institutionalisierung fand nicht statt; die Funktion einer Großveranstaltung, als Katalysator für bereits vorher entwickelte Beschlüsse oder Absichten zu wirken und eine bestehende Institution zu stärken, konnte nicht zum Tragen kommen. Aber die Versuche des Bewegungsflügels, linksradikal zu intervenieren, gingen ebenfalls weitgehend unter.

Die Befürchtungen von manchen Linksradikalen, einer Mafia von Parteigründungs-Funktionären gegenüberzustehen, bewahrheiteten sich zwar nicht. Das liegt aber möglicherweise auch daran, daß die bereits bestehenden informellen Machtstrukturen innerhalb der Bewegung bzw. der „Sozialforen“ einigen Beteiligten sehr gelegen kommen und durchaus bequemer sind als formale und offene Hierarchien und Entscheidungswege. Die „Arroganz der Mächtigen“ war innerhalb des ESF durchaus spürbar: Wer bekam wo Räume, welche Veranstaltungen wurden bevorzugt behandelt und beworben, wer konnte wo sprechen – über diese technischen, nur halb sichtbaren Strukturen formiert sich die Macht innerhalb der Bewegung und ist niemandem zur Rechenschaft verpflichtet. Es ist klar, daß Gruppen wie Attac vom Moment der Parteigründung an hingegen in die klassische linke Organisationskonkurrenz geraten würden und ihren Besitzanspruch auf die vielfältige Massenbewegung verlieren würden. Und es ist ebenso klar, daß linke Zirkel (welchem -ismus sie auch anhängen mögen) am besten in dieser diffusen Machtstruktur wirken können, solange sie an den entscheidenden Hebeln sitzen und ihre Dauerfunktionäre zu den entsprechenden Treffen schicken können.
In Florenz wurde dieser Verfestigungsprozeß von den Massen überspült und von der Begeisterung unsichtbar gemacht, es ist aber durchaus fraglich, ob das beim ESF 2003 in Paris nicht ganz anders aussehen wird. Denn in Frankreich gibt es keine vergleichbare Massenbewegung wie in Italien. Die Frage, ob und vor allem wie die Bewegung sich institutionalisiert, wird also voraussichtlich erst im nächsten Jahr wirklich auf die Tagesordnung kommen.

Ein Steinchen im Mosaik

Innerhalb der radikalen Linken hatte es im Vorfeld über diese Frage unterschiedliche Meinungen gegeben. Während die einen (in Italien die Disobbedienti) die Intervention innerhalb des ESF für richtig und notwendig hielten, sahen andere dies als aussichtslos an und bildeten den „autonomen Hub“ als eigene Nebenveranstaltung. So kam es auch, daß die ersteren ihr „Global TV“ im Ippodromo produzierten und über Satellit und Internet verbreiteten (allerdings nicht daran dachten, in der „Fortezza“, wo das ESF weitgehend stattfand, Fernsehgeräte aufzustellen), während die letzteren an der Piazza della Libertà ihr eigenes TV-Programm machten und über Antenne auf Sichtweite ausstrahlten. Genützt hat beides vielleicht in erster Linie denen, die es machten und dabei die Technik erprobten. Wahrgenommen wurde die Spaltung nur von einem sehr geringen Teil der Menschen im ESF, und verstanden vermutlich von noch weniger. Und recht behalten haben beide Fraktionen, denn sowohl die linksradikale Intervention innerhalb des ESF als auch die autonomen Versuche, von außen darauf einzuwirken, blieben ein Workshop unter vielen, ein Farbtupfer im Gesamtbild.

Die Disobbedienti stellten auf einer Versammlung am Donnerstag abend fest, daß es dem ESF an Konflikten fehle und eine kalkulierte Zuspitzung nötig wäre, konnten das jedoch nicht erfolgreich umsetzen. Dennoch ist ihrer Einschätzung zuzustimmen, daß die Alternative zur Institutionalisierung der Bewegung die Schaffung von Konfliktlinien sein muß, an denen sich Kämpfe und politische Biographien aufrichten und entwickeln können und die dennoch offen sind für viele. In Italien haben sie das nach Genua teilweise anhand des Nahost-Konfliktes gemacht, momentan ist der bevorstehende Irak-Krieg das bündelnde Thema. Eine darüber hinausweisende Perspektive, an der sich die verschieden starken Bewegungen in Europa beteiligen können, zeichnet sich möglicherweise in den Forderungen nach Bewegungsfreiheit ab, denn hier lassen sich thematisch Gipfelproteste samt Grenzsperren zusammenführen mit Kämpfen gegen rassistisches Regime und ökonomischen Terrorismus der G8.

Die zahlreichen Mobilisierungen des Jahres 2003 wurden letztlich der gemeinsame Nenner des ESF. Für Urlaub wird 2003 nicht viel Zeit bleiben. Für Deutschland liegt das Schwergewicht vorläufig auf der Mobilisierung gegen das World Economic Forum in Davos (25.01.) und vor allem gegen die NATO-Sicherheitskonferenz in München (08.02.), aber es wird weitere Termine geben.

Florenz hat Mut gemacht – Wut haben wir schon – also auf zur nächsten Etappe!

Veröffentlicht auf Indymedia am 15.11.2002